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Nicole Lieger

 

Nicole Lieger NICOLE LIEGER

DIE POLITIK DER ANZIEHUNG Neue Formen politischen Arbeitens

Ich möchte einladen zu einer Suche nach neuen Formen politischen Arbeitens; Formen, bei denen Ziel und Mittel in Einklang stehen, die von Leichtigkeit und Freude getragen werden, und die neue, bislang unausgeschöpfte Gestaltungspotentiale zutage treten lassen.

Werte und Zugänge wie Achtsamkeit, Freude, Liebe oder Verbundenheit müssen nicht auf die persönliche Entwicklung und den „privaten“ Bereich beschränkt bleiben. Sie können auch Bedeutung beim Betrachten der kollektiven Ebene erhalten, und dort unser Handeln bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen prägen. „Sei die Veränderung, die Du in der Welt sehen willst“ ist eine Möglichkeit, das Private als politisch zu begreifen und die Überwindung dieser Dichotomie zu denken. Dabei begreife ich mich selbst als einen Bestandteil des Systems, als system-intern, als systemtragend, und gebe mir damit auch ein ganz anderes Handlungspotential als ich es mir bei einer Selbstkonzeptualisierung als externe Opposition zusprechen würde.

Eigenermächtigung und das Entdecken von Gestaltungskraft sowohl im Individuellen wie auch im Kollektiven sind ein Kernpunkt dieses Zugangs zu politischem Arbeiten. Dies kann mit unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtungen geschehen. Ein inhaltlicher Bereich, der für mich wichtig ist, ließe sich umschreiben mit Worten wie Verbundenheit, Ganzheitlichkeit, Nicht-Dualität, Entstehen in wechselseitiger Abhängigkeit, Intersein, holistisches und systemisches Denken oder All-Eins. Ein zweiter für mich wesentlicher Bereich kann angedeutet werden durch Begriffe wie Achtsamkeit, Liebe, Sanftheit, Freundlichkeit, Wohlwollen, Wertschätzung, und auch Freude, Humor, Leichtigkeit und Vertrauen.

Unter alledem liegt bei der Politik der Anziehung ein konstruktivistisches Weltverständnis, dass heißt eines, das davon ausgeht, dass die von uns wahrgenommene Wirklichkeit im wesentlichen Wahrnehmung ist, und dass die Kraft unserer Gedanken, Konzepte und Kommunikationsweisen unsere Wirklichkeit entscheidend prägt. Hier trifft sie sich auch in gewisser Weise mit dem jüngst wieder populär gewordenen „Gesetz der Anziehung“ (Fn 1), dessen metaphysische Begründung ich persönlich nicht nachvollziehe, dessen wesentliche Schlussfolgerungen für Handlungsmöglichkeiten sich aber sehr gut mit einem konstruktivistischen Weltbild zusammenfügen und auch auf kollektive Ebenen anwenden lassen.

Dazu, sowie zur Politik der Anziehung insgesamt, möchte ich nun einige mögliche Umsetzungswege oder Anwendungsgebiete vorstellen, jeweils mit ein oder zwei konkreten Beispielen. Der gedankliche Fokus liegt dabei auf Handlungsoptionen zivilgesellschaftlicher Gruppen in Österreich oder Europa / Nordamerika; hier sollen, neben den bestehenden Zugängen, neue Möglichkeiten eröffnet werden.

Die Macht der Worte

Konstruktivismus legt großen Nachdruck auf die Macht, die Worte und Begriffe haben in der Formung unseres Bewusstseins von der Welt. Es liegt daher nahe, sich aktiv für die Verwendung von Wörtern und Wendungen zu entscheiden, die mit ihren Konnotationen und Bedeutungszusammenhängen jene Art von Welt mitschwingen lassen, wie wir sie entstehen lassen wollen. Konstrukte leben von ständiger Wiederholung, vom Zitiert-Werden. Dies ließe sich auch ausdrücken als „Was Energie bekommt wächst“. Ein Grundgedanke, der für die Politik der Anziehung zentral ist und auch hier relevant wird, ist die bewusste Hinwendung zu dem, wo wir hin wollen (nicht zu dem, von dem wir weg wollen, oder das wir verhindern wollen).

Geschlechtsneutrale Sprache ist eine bekannte Anwendung dieses Zugangs, der auf der Macht der Wortwahl beruht. Ein Beispiel aus einem anderen Bereich wäre das Ersetzen des Wortes „müssen“ durch „können“ oder „werden“.

Ein weiterer Vorschlag, den ich hier in den Raum stellen möchte, ist, eine sprachliche Wendung zu suchen, die immer deutlich macht, dass unser Interesse dem Wohlergehen der gesamten Menschheit gilt. Besser wäre vielleicht noch zu sagen „allen Lebewesen“, aber ich denke, als erster Schritt ist eine Besinnung auf die Menschheit als Ganzes schon sehr hilfreich. Der sprachliche Vorschlag dazu wäre, das Wort „wir“ immer in Bezug auf die Menschheit zu verwenden. Möchte ich auf spezielle Umstände einer bestimmten Situation eingehen, sage ich „diejenigen von uns“. Zum Beispiel: diejenigen von uns, die in China geboren wurden; diejenigen von uns, die gerade Konzerne leiten; diejenigen von uns, die Terroranschläge vorbereiten; diejenigen von uns, die in Slums leben; diejenigen von uns, die gerade als Soldaten unterwegs sind; diejenigen von uns, die als Männer erzogen wurden; diejenigen von uns, die gestorben sind.

Die Formulierung „diejenigen von uns“ hat weiters den Vorteil, dass man meist einen Nebensatz anschließt, und dadurch eher Zeitwörter und Eigenschaftswörter verwendet. Dadurch wird die Grundeigenschaft des Menschseins stärker hervorgehoben, die Erfüllung einer Funktion als nur eine von mehreren Facetten der Person deutlich. Geburtsort zum Beispiel erscheint so eher als Zufälligkeit denn als ewig-bestimmendes Charaktermerkmal. Auch die zeitliche Begrenztheit und eventuelle Veränderbarkeit der momentanen Eigenschaften wird leichter kommuniziert, verstärkt noch bei Beifügung von Wörtern wie „derzeit“ oder „bisher“. Namenswörter, die wir manchmal als Abkürzung anstelle des Nebensatzes verwenden, neigen hingegen leichter dazu, das Bild einer fixen, umfassenden, unveränderlichen Identität zu suggerieren. So etwa: „Ich bin Ausländerin“ im Vergleich zu „Ich lebe derzeit in Österreich“. Auch der Wechsel von „Behinderte“ hin zu „Menschen mit Behinderung“ folgt einer ähnlichen Logik.

Ich glaube, dass eine derartige Änderung in unserem Sprachgebrauch viele weitere Konsequenzen nach sich ziehen kann. Der etwas mechanistische Ansatz des fixen Formulierungsvorschlags macht es leicht, irgendwo einen Anfang zu finden; sich immer wieder daran zu erinnern; und einen - stets mit neuen Facetten wiederkehrenden - Einstieg in den Prozess des Diskurswandels zu haben. Wenn man erst einmal mit der Formulierung „diejenigen von uns“ beginnt, ändert sich wahrscheinlich auch der Rest der Darstellung. Wie beschreibt sich zum Beispiel eine Kriegssituation, wenn ich konsequent nicht „die einen - die anderen“ sage, sondern „diejenigen von uns - diejenigen von uns“ ? Führt das dazu, dass die meisten Kriegsargumente sich etwas hohl anhören? Welche Veränderungen bemerken wir in unserem Sprechen über Wirtschaft, über Geschlechterverhältnisse, über Globalisierung...?

Visionen benennen

Aus der Vision heraus zu agieren ist einer der Grundgedanken in der Politik der Anziehung als Handlungsmodus. Das bedeutet zunächst einmal, dass wir uns darin üben, unsere Vision zu benennen. Wie heißt denn das, wofür wir uns einsetzen, was wir anstreben? Zum Beispiel: Ich bin gegen Rassismus und für.... ? Welche Worte können das ausdrücken, wofür ich bin? Toleranz; Akzeptanz; Vielfalt; Gleichheit; Gleichbehandlung; Multikulturalismus; Menschlichkeit, Offenheit... alle diese Begriffe kämen möglicherweise in Frage, und noch viele andere mehr. Mit jedem dieser Wörter schwingt ein ganzes Begriffsfeld mit, eine Vorstellungswelt, und es macht dementsprechend einen Unterschied, welche ich auswähle.

Dies wäre auch ein konkreter Vorschlag für das Vorgehen politisch engagierter Gruppen: sich zusammenzusetzen und zu schauen, welche Wörter und Begriffe den beteiligten Personen einfallen; was für wen wichtig ist; welches Verständnis des jeweiligen Wortes dahinter steht. Welche Bilder und Konnotationen gehen z.B. für mich mit Akzeptanz einher, wieso ist wäre das für mich ein zentraler Wert? Wo und wie habe ich diesen schon ausgelebt, oder wie würde ich ihn gerne ausleben? Wie äußerst sich dieser Wert (im Idealfall) in der Alltagspraxis? Wo konnte ich so etwas in Ansätzen schon beobachten, und was waren die Faktoren, die es damals begünstigt haben? Können diese Faktoren öfters auftreten, können sie bestärkt oder begünstigt werden? Gibt es andere Faktoren, die ebenso sehr zum Auftreten von Akzeptanz als Alltagspraxis beitragen? Wo können diese Faktoren gefunden oder gefördert werden? Inwieweit hat Akzeptanz als Alltagspraxis einen positiven Einfluss auf formale politische oder rechtliche Institutionen, und umgekehrt, wie können formale Institutionen die Alltagspraxis von Akzeptanz bestärken? Wie verhalten sich verschiedene Werte und Begriffe, die uns wichtig sind, zueinander? Wie befruchten sich z.B. unsere Vorstellungen von Gleichheit und Multikulturalismus? Wo beleuchten die Begriffe unterschiedliche Aspekte und Ebenen derselben Vision, wo wollen sich unterschiedliche Visionen herausbilden?

Fragen dieser Art können in eine sehr intensive und andauernde Auseinandersetzung führen, in deren Verlauf unsere eigenen Gedanken an Klarheit und auch an Kraft gewinnen; an Detailliertheit und Differenziertheit, an Hintergrund und an Praxistauglichkeit. Visionen zu benennen kann eine prozesshafte Dynamik in Gang bringen.

Zu dieser Art des Zugangs gibt es sowohl ausgiebige Literatur als auch umfassende Praxiserfahrung aus dem Bereich der Organisationsentwicklung unter dem Titel Appreciative Inquiry (Fn 2). Dies ist bereits eine Anwendung auf einer kollektiven Ebene, auch wenn das Kollektiv in diesen Fällen maximal einige hundert bis tausend Personen umfasst. Insbesondere der konstruktivistische Hintergrund und das Ansetzen beim Positiven, beim gut Funktionierenden und beim Erwünschten machen Appreciative Inquiry zu einer ausgezeichneten Inspirationsquelle für zivilgesellschaftliches Handeln im Sinne der Politik der Anziehung.

Der Zugang, Positives zu identifizieren und zu verstärken kann auch unmittelbar auf ganz klassische Formen des zivilgesellschaftlichen politischen Handelns umgelegt werden, zum Beispiel auf das Schreiben von Protestbriefen. Wir können auch gute Gesetzesinitiativen identifizieren, oder Politiker_innen, die aufgrund ihrer Vorgangsweise und ihres Auftretens jene Art des politischen Umgangs befördern, die wir für wünschenswert halten. Solchen Menschen können wir Lob- und Unterstützungsbriefe schreiben, und damit diese politische Kraft stärken. Dieser Zugang wird von manchen Organisationen schon seit längerem angewandt, etwa vom Quaker Peace&Service Committee in Bezug auf den US Congress, seit Neuestem auch von Organisationen wie Greenpeace.

Visionen mit Kraft füllen

Auf einer verbalen Ebene mit dem Prozess der Identifizierung von Visionen zu beginnen ist vergleichsweise naheliegend; sie ist vertraut und relativ gut handhabbar. Mit ihr bewegen wir uns auch häufig im Bereich des Intellektuellen und Analytischen.

Für effektives politisches Wirken sind darüber hinaus noch andere Ebenen wichtig, wie zum Beispiel die der Emotionen und der inneren Kraft. Hier liegt auch einer der Unterschiede zwischen einer lose im Raum schwebenden Idee und einer echten Inspiration, zwischen einer bloßen Worthülse und einem (starken, lebensfähigen) Konstrukt.

Der Weg vom gesprochenen Wort zur tief empfundenen Selbstverständlichkeit kann als eine Ebene der Umsetzung konzeptualisiert werden. Ist die innere Umsetzung vollzogen, komme ich in den Zustand, in dem ich spontan aus einer bestimmten Vorstellung heraus handle (ohne mich erst absichtlich ihrer besinnen zu müssen), und in dem mir die konkrete Form ihrer Anwendung auf eine bestimmte Situation unmittelbar intuitiv zugänglich ist. Dazu gehört auch eine bestimmte Art von innerer Energie und Beschwingtheit (vielleicht das Gegenteil von Burnout?), die es leicht macht, Kontinuität zu wahren und einen fortlaufenden Prozesses in Ruhe zur Entfaltung kommen zu lassen.

Von verschiedenen Seiten sind Wege und Methoden entwickelt worden, um Menschen darin zu unterstützen, die Umsetzung von der konzeptuellen und gedanklichen Ebene auf eine emotionale, intuitive, tief empfundene und spontan gelebte Ebene zu finden. Psychotherapeutische und spirituelle Traditionen haben Techniken von Aufstellungen bis Meditationen entwickelt, um Menschen in dieser Art von Prozess zu unterstützen. So kann zum Beispiel der Übergang unterstützt werden von dem Zustand, in dem ich weiß, dass ich keine Angst zu haben brauche, hin zu dem Zustand, wo ich tatsächlich keine Angst mehr habe.

Diese Art von Übergang ist sowohl in Bezug auf die individuelle wie auch auf die kollektive Ebene wichtig. Auch unsere politischen Vorstellungen brauchen diesen Übergang von bloßem Wissen und Denken hin zu einem spontan empfundenen Zustand.

Ich möchte dazu vorerst ein Mittel vorstellen, das relativ gut bekannt und weit verbreitet ist; das der bildlichen Vorstellung und des utopischen Romans.

Als ein Beispiel greife ich Edward Bellamys „Looking Backward“ (Fn3) heraus, der damit nicht nur seine Vision einer utopischen Gesellschaft vorstellt, sondern auch eine Vision zum Übergang dorthin: zu einem Übergang, der so leicht, so friedlich und so naheliegend war dass es fast erstaunlich scheint, dass die Menschheit sich überhaupt jemals vor unüberwindbaren Schwierigkeiten glaubte...

Visionen zum Transformationsprozess können m.E. ebenso wichtig sein wie die Vision für die Gesellschaft danach. Nicht umsonst benützen wir die Redewendung „das kann ich mir gut vorstellen“ häufig um anzudeuten, dass wir etwas tun werden, daran teilnehmen oder mitwirken möchten. Sich-Vorstellen-Können ist m.E. ein wesentlicher Schritt zur Handlung. Wenn wir uns nur Desaster vorstellen können, wohin zielt dann unsere Mitwirkung? Wenn wir Vorstellungen zu leichten, friedlichen und selbstverständlichen Transformationsprozessen entwickeln, ergeben sich damit - bewusst oder unbewusst - auch Handlungslinien für uns, die in diese Richtung führen können.

Der Roman war bei seinem Erscheinen 1888 eines der meistverkauften Bücher der Zeit und hat zahlreiche Kommentare, Entgegnungen und Fortschreibungen - viele davon ebenfalls in Romanform - hervorgerufen. Bellamys Roman war also - wie viele andere utopische Romane auch - ein Weg, die Inspiration und Vorstellungskraft des Autors ebenso wie der Leser_innen zu beflügeln und einen politisch-poetischen Austausch anzuregen.

Für alle jene unter uns, die sich nicht berufen fühlen, ebenfalls einen utopischen Roman zu verfassen, gibt es einige Varianten desselben Zugangs, die etwas kleiner und leichter zu handhaben sind.

Zum einen können wir natürlich utopische Romane lesen, und uns von ihnen inspirieren lassen. Wenn wir einmal in die Traumwelt eines Romans eingestiegen sind, können wir die Geschichte vielleicht im Kopf weiterspinnen; Szenen nochmals durchleben, ausschmücken, ein wenig abändern; weitere Szenen oder Charaktere hinzuerfinden, und diese vor wieder neue Situationen stellen. Dies kann man tagträumerisch alleine tun, oder auch gemeinsam mit anderen, so wie wir einander begeistert von einem Kinofilm erzählen.

Die Schwungvollen unter uns können die besten Szenen auch gleich ausagieren und nachspielen. Was viele von uns als Kinder selbstverständlich getan haben ist auch für Erwachsene noch möglich und in letzter Zeit wieder zunehmend gesellschaftsfähig. Rollenspiele wie „Das schwarze Auge“ finden zunehmend Verbreitung und bringen eine modere Kultur des Geschichtenerzählens; von manchen wird das als Live-Rollenspiel auch in vollem Kostüm an Wochenenden auf alten Burgen ausgelebt. Diese Formen des Rollenspiels werden derzeit selten genutzt, um gesellschaftspolitische Visionen zu entwickeln und mit Leben zu füllen; dies wäre jedoch leicht möglich.

Rollenspiele und Aufstellungen werden natürlich auch im Bereich von Psychotherapie und Persönlichkeitsentwicklung verwendet. Aus diesem Bereich kommt sehr viel Know-How, insbesondere was die Reflektion, die Umsicht und die Einbeziehung von Meta-Kommunikation betrifft. In Kombination mit der unbekümmerten Selbstorganisation der Rollenspieler_innen ergibt das m.E. eine reiche Quelle an methodischen Vorgehensweisen, aus der politische Visionsfindung schöpfen kann.

Neben dem Lesen utopische Romane können auch geleitete Meditationen und Phantasiereisen als Impuls für politische Kreativität genutzt werden. Hier ist der Einstieg offener, die Bilder weniger vorgegeben; es kann auch sein, dass die Visionen weniger detailliert werden, eher einzelne Bilder bleiben als ganze Geschichten. Gleichzeitig sind die Bilder dafür persönlicher, sind Visionen, die direkt von den jeweils träumenden Personen aus ihrer eigenen inneren Welt heraus erschaffen werden. Der eigene Bezug dazu kann dementsprechend tief und stark sein. Weitere Ausführungen dazu finden sich im Beitrag von Silke Rosenbüchler in diesem Band.

Eine weitere Abwandlung schlagen Joanna Macy und Molly Young Brown vor. „Die Reise ins lebendige Leben“ (Fn 4) enthält eine reiche Sammlung von Methoden, wie Herz, Hirn und Hand im Sinne ganzheitlicher politischer Arbeit - in diesem Fall mit Ausrichtung auf Tiefenökologie - zusammengebracht werden können. Unter anderem schlagen sie vor, sich selbst Briefe aus der Zukunft zu schreiben, und dadurch sowohl Visionen zur zukünftigen Welt wie auch zum Übergang dorthin auszudrücken. Auch können sich Personen in strukturierten Redekreisen gegenübersitzen. Eine Person schlüpft dabei jeweils in die Rolle einer Person aus dem Jahr 2100, und spricht zur anderen Person und damit zu unserer Gegenwart.

Neue Geschichten über die Welt

So, wie wir uns darin üben, neue Geschichten über die Zukunft und den Weg dorthin zu erzählen, können wir uns auch darin üben, neue Geschichten über die Vergangenheit oder die Gegenwart der Welt zu erzählen. Ausgangspunkt dabei ist die Annahme, dass es jeweils eine große Anzahl von Geschichten gibt, die erzählt werden können und „wahr“ sind, das heißt, dass wir sie als stimmig und authentisch erleben und als in Übereinstimmung mit dem, was uns als „Fakten“ bekannt ist. Eine Geschichte ist dabei eine Darstellungsweise, eine Interpretation, eine Art, auf die Welt zu schauen und sie zu erleben.

Es geht nun darum, eine Auswahl unter diesen vielen möglichen, erzählbaren Geschichten zu treffen. Dabei suche ich - aufgrund meiner eigenen Zielsetzung - speziell nach Geschichten, in denen die Welt als schön, als liebens- und lebenswert erscheint, und in denen ich bzw wir Handlungspotential habe, um zum Übergang in die von uns gewünschte Zukunft beizutragen.

An dieser Stelle wird auch besonders deutlich, welche neuen politischen Herangehensweisen uns ein konstruktivistisches Weltverständnis ermöglicht. Würden wir davon ausgehen, dass „die Wirklichkeit“ in einer unverrückbaren, von uns unabhängigen Art „dort draußen“ existiert, und dass es unsere Aufgabe ist, sie - so wie sie eben ist - zu erkennen bzw. zu beschreiben, würde der eben beschriebene Zugang wenig Sinn machen; es wäre eher so etwas wie Schummelei.

Konstruktivismus erlaubt uns hingegen, die Sache von dieser Seite her anzugehen: Wir definieren zuerst, was wir wollen (eine liebenswerte Welt, Handlungsmacht...) und suchen dann nach einer Betrachtungsweise, die uns das ermöglicht. Als Konstruktivistin gehe ich davon aus, dass die Welt immer von uns erschaffen wird, nie „bloß beobachtet“. Meine Beschreibung kreiert immer Realität. Die Frage ist also nicht: „Entspricht meine Beschreibung der Realität?“ sondern „Erschafft meine Beschreibung die Art von Realität, die ich möchte?“.

Wir haben vergleichsweise wenig Übung darin, es so anzugehen, und begegnen mehreren Herausforderungen. Schon genannt wurde der Schritt, überhaupt erst aus der gewohnten Sicht auszusteigen, neue Gedanken entwickeln und benennen zu können. Weiters geht es darum, die gefundenen Worte oder Bilder mit Kraft und Lebendigkeit zu füllen. Darüber hinaus, und dieser Aspekt wird besonders deutlich bei Geschichten über Vergangenheit und Gegenwart, geht es auch darum, Übereinstimmung herzustellen mit den von uns so gesehenen Fakten. Es geht um ein Gefühl der Stimmigkeit, Ehrlichkeit und Authentizität.

Zum Beispiel wäre es mir nicht möglich, eine Geschichte über die Gegenwart zu erzählen, in der vorkommt, dass niemand verhungert. Ich halte lebensbedrohenden Hunger für ein Faktum unserer gegenwärtigen Welt, und darüber hinaus für leidvoll und gravierend. Ich könnte auch sagen, es schreit zum Himmel. Es ist mir allerdings möglich, eine Geschichte zu erzählen, in der die Menschheit über den Zeitraum mehrerer Jahrhunderte betrachtet wird, und in der die momentanen Leiden zwar vorhanden und bedeutend sind, aber gleichzeitig Teil etwas wesentlich Größeren und Komplexeren: eines langen, insgesamt kostbaren und staunenswerten Prozesses der Entfaltung des Lebens.

Diese Geschichte erfüllt meinen Anspruch, emotional angenehm zu sein, und es mir zu erleichtern, in Freude, Leichtigkeit und Vertrauen zu leben. Gleichzeitig erfüllt sie - entsprechend erzählt - meinen Anspruch auf Gestaltungskraft und -motivation. Sich in einen grundsätzlich als kostbar und wertvoll empfundenen Prozess einzubringen ist motivierend. Die Gestaltungskraft wird hier in den größeren Zusammenhang eingebettet, wodurch einzelne Rückschläge nicht mehr so (demotivierend) ins Gewicht fallen; Leistungsdruck nimmt ab, Leichtigkeit nimmt zu, und er-leichert damit auch das Handeln. Verbundenheit und Vertrauen motivieren, Freude und Leichtigkeit tragen zur Handlung: was anderes könnte ein gesunder Mensch in diesem Zustand machen, als seine Neugier und Kreativität auszuleben und zum Wohlergehen des Ganzen beitragen zu wollen?

Welthunger wird in meiner Geschichte dargestellt als etwas, das absolut leicht zu beheben ist (da ja genug Lebensmittel vorhanden), und das wir Menschen bisher aufgrund eines dummes Missverständnisses, einer unhilfreichen Art der Betrachtung, ständig neu erschaffen und aufrechterhalten haben; ein völlig unsinniges und unnotwendiges Vorgehen. Sobald uns das auffällt, werden wir natürlich damit aufhören; das ist erleichternd und befreiend für alle.

Eigene Räume schaffen, Räume anderer bestehen lassen

Ein weiterer wesentlicher Vorschlag der Politik der Anziehung ist es, die eigenen Geschichten so zu erzählen, dass die Geschichten anderer auch noch Platz haben. Dies ermöglicht es mir, auch im Politischen, auch dann, wenn es um kollektive Ebenen geht, von mir zu sprechen, und es anderen frei zu stellen, ob und in inwieweit sie etwas von meiner Sichtweise als für sich selbst hilfreich einstufen möchten. Der Raum bleibt offen für andere, die ebenfalls von sich sprechen können, von ihren Visionen und Vorstellungen, die ihre Geschichte erzählen können und versuchen, nach ihr zu leben.

Wie sinnvoll es sein kann, von sich zu sprechen, und wie offen ich anderen zuhören kann, wenn ich davon ausgehe, dass sie von sich sprechen und nicht für mich, habe ich insbesondere in Selbsthilfegruppen und 12-Schritte-Programmen erlebt. Erstaunlich war für auch zu sehen, wieviel und vor allem wie tiefgehender Austausch gerade dadurch möglich ist, dass nicht direkt aufeinander Bezug genommen wird, sondern alle bei sich bleiben und nur ihre eigenen Geschichte erzählen. Ich denke, dass eine Umlegung dieses Prinzips auch auf politische Diskussionen außerordentlich hilfreich sein kann; sie würde m.E. entspannter und freier.

Eine Voraussetzung dafür ist m.E. ein Bekenntnis zum Pluralismus. Bisher habe ich häufig in der impliziten Vorstellung gelebt, dass es nur einen politischen oder diskursiven Raum gäbe, und dass es darum ginge, welche Geschichte diesen Raum hegemonial prägt. Mein Vorschlag wäre nun, stärker von einer Parallelität diskursiver und politische Räume auszugehen; sich bewusst eigene Räume zu suchen und zu schaffen; und die Räume anderer ungestört bestehen bzw. sich entwickeln zu lassen.

Es erwächst eine besondere Kraft daraus, eigene Räume schaffen, in denen wir selbst den Rahmen und die Spielregeln von vornherein so ansetzen, wie es unseren Vorstellungen entspricht. Dies kann auf einer konkreten Ebene so aussehen, dass wir eigene Veranstaltungen zu den eigenen Themen organisieren (statt bei den Veranstaltungen anderer in die Oppositionsrolle verbannt zu bleiben). Auch die Veranstaltung der anderen kann auf diese - ungestörte - Weise vielleicht besser ihre eigene Kraft und Sinnhaftigkeit entfalten (selbst wenn diese für mich nicht unmittelbar als solche erkennbar ist). Eine dahinter liegende Hypothese ist die Annahme, dass es tatsächlich mehrere grob unterschiedliche Arten gibt, an das menschliche Leben und die gemeinschaftliche Organisation desselben heranzugehen. Dazu kommt die Bereitschaft, zu akzeptieren, dass manche Menschen - einzeln und gemeinsam - in einer Art und Weise an ihr Leben herangehen wollen, die mir selber überhaupt nicht entsprechen würde. Das ist ein Bekenntnis zum Pluralismus auf einer sehr tiefgehenden Ebene, nämlich einer, die Pluralismus auf einer recht grundlegenden Werteebene mit einschließt.

Mein Vorschlag, eigene Räume zu schaffen und Räume anderer bestehen zu lassen, erstreckt sich also auf kleine, konkrete Beispiele wie eigene Veranstaltungen; er erstreckt sich auch auf die ganz große Ebene unterschiedlicher Weltsichten. Und auch auf Ebenen dazwischen, wo es um die Errichtung eigener Institutionen geht. Hier gibt es bereits viele politische Initiativen, die innerhalb des bestehenden größeren Systems Nischen und Ansatzpunkte ausmachen, bei denen es möglich ist, im Kleinen bereits nach anderen, eigenen Spielregeln zu agieren, und damit möglicherweise zu demonstrieren, wie gesellschaftliche Organisation auch aussehen könnte. Freie Medien und Weblogs fallen ebenso in die Entdeckung und Erschaffung eigener Räume wie verschiedenen solidarökonomische Projekte: Tauschkreise, Regiogelder, selbstverwaltete Betriebe, Kost-Nix-Läden, Ökodörfer... (Fn 5)

Realer Pluralismus bedingt m.E. auch die Möglichkeit, Abstand zu halten. Tiefgehende Unterschiede kann ich dann am besten akzeptieren, wenn ich weiß, dass mein eigener Raum dadurch nicht erschüttert wird, sondern jedenfalls unbeschadet weiter bestehen und gedeihen kann.

Genau dieses Gefühl bemühe ich mich also anderen zu vermitteln: dass ihr Raum jedenfalls unbeschadet bestehen und gedeihen kann; dass dies mein aufrichtiger Wunsch ist. Auch wenn meine eigenen Vision für menschliches Leben ganz anders aussieht.

Je mehr es mit gelingt, diese echte Wertschätzung für völlig anders gelagerte politische Konzeptionen zu empfinden und auszustrahlen, umso mehr wird sie auch mir entgegengebracht werden - so zumindest meine Arbeitshypothese. Aber selbst wenn mir dieses Echo nicht zurückschallen sollte: dass ich so in den Wald hineinrufe ist für sich genommen bereits Ausdruck meinen eigenen Werthaltung und insofern jedenfalls sinnvoll. Sich darauf zu konzentrieren, möglichst selbst die eigenen Werte zu leben, in all ihrem Umfang und ihrer Konsequenz (und sich weniger Sorgen zu machen, ob andere meine Werte leben), ist ebenfalls ein sinnvoller Baustein in der Politik der Anziehung.

Hier wird auch ein weiterer Aspekt der Namensgebung der Politik der Anziehung deutlich: eine Grundidee der politischen Kommunikation, die darauf beruht, dass ich selbst meine Werte lebe, sichtbar und zugänglich, und auf Anfrage auch gerne darüber Auskunft gebe. Wer sich angezogen fühlt, mitmachen oder etwas daraus übernehmen will: herzlich willkommen. Wer sich nicht angezogen fühlt, ist herzlich eingeladen, etwas anderes zu machen; was ihn oder sie eben anzieht. Die Grundidee ist, dass alle das machen mögen, was ihnen selbst als besonders stimmig und anziehend erscheint.

Lustprinzip und Unmittelbarkeit

Damit möchte ich auch zum letzten Grundprinzip überleiten, dass ich in diesem kurzen Einblick in die Politik der Anziehung als möglichem Handlungsweg darstelle.

Lustprinzip und Unmittelbarkeit sind Worte, die vielleicht ausdrücken könnten, was es bedeutet, als politisch Handelnde im gegenwärtigen Moment zu leben und diesen zu genießen.

Politische Aktionen könnten grundlegend so gestaltet werden, dass sie für sich genommen - selbst ohne weiterführenden Effekt auf die Gesellschaft - schon freudvoll und sinnhaft sind. Natürlich gibt es im allgemeinen zusätzlich die Hoffnung auf so einen positiven weiterführenden Effekt, und auch gute Gründe für diese Hoffnung. Gleichzeitig sind die Auswirkungen unserer Handlungen immer ungewiss. Gesellschaften sind sehr große und komplexe Gebilde, und wir bei weitem nicht die einzigen Handelnden darin. Der langfristige Effekt unserer Handlungen ist m.E. immer ungewiss. Darum empfehlen sich, so scheint mir, Bescheidenheit und Umsicht. Je angenehmer unser politisches Handeln unmittelbar für uns selbst und für andere ist, umso geringer das Risiko. Je mehr wir unmittelbar jene Werte erleben und ausstrahlen, die wir uns für eine zukünftige Gesellschaft wünschen, umso besser. Dieser Zugang beruht auch auf dem Glauben, oder dem Vertrauen, oder der Arbeitshypothese, dass es Formen gibt, sich sinnvoll in die Gestaltung des Ganzen einzubringen, die gleichzeitig für mich selbst angenehm und freudvoll sind. Ja, dass ich vielleicht genau dann, wenn ich in meiner eigenen Kraft und Freude bin, besonders gut beitragen kann; besonders umsichtig zuhören, besonders stark ausstrahlen, besonders klar sehen.

Ein ganz guter Anhaltspunkt dazu scheinen mir die bekannten Open-Space Prinzipien zu sein: Die, die da sind, sind genau die Richtigen. Es geschieht genau das, was jetzt geschehen kann. So, wie wir zwischen den Workshops eines Open Space Symposiums herumgehen, und uns auch mal in der Küche treffen oder im Garten hinlegen, so können wir auch durch das Leben und durch unser politisches Handeln gehen: ich gehe dorthin, wo es mir gut tut, und vertraue anderen darin, dass sie das auch tun, und dass auf diese Art insgesamt das Beste herauskommt, was eben jetzt gerade herauskommen kann. Hier kommt vielleicht der Übergang zu einem Grundsatz, den ich vor allem mit buddhistischen Kontexten in Verbindung bringe: aus tiefstem Herzen und mit aller Kraft zu handeln, und möglichst Loszulassen in unseren Erwartungen an das Ergebnis. Ich kann mich entscheiden, mir eine Geschichte des Vertrauens und der Freiheit zu erzählen, und mein politisches Handeln hier und jetzt darin einzubetten.

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Fußnoten:

1) In letzter Zeit waren einige Bücher und Filme in der Tradition des New Thought, die sich stark auf das „Gesetz der Anziehung“ berufen, auf den Bestsellerlisten. Als Beispiele siehe:

Bärbel Mohl, Bestellungen beim Universum: ein Handbuch zur Wunscherfüllung, Omega, Aachen 2001 Rhonda Byrne, The Secret – Das Geheimnis, Goldmann, München 2007

2) Eine Einführung und zahlreiche Literaturhinweise zu Appreciative Inquiry finden sich u.a. auf

http://appreciativeinquiry.case.edu

3) http://en.wikisource.org/wiki/Looking_Backward_From_2000_to_1887

Für eine Kurzdarstellung der Reaktioon auf die Publikation sowie auf darauf folgende Erscheinungen siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Looking_Backward

4) Joanna Macy, Molly Young Brown, Die Reise ins lebendige Leben: Strategien zum Aufbau einer zukunftsfähign Welt, Junfermann, Paderborn 2007

5) siehe dazu auch den Beitrag von Ronny Wytek in diesem Band, sowie zum Beispiel die Kongresse zu Solidarischer Ökonomie in Deutschland und Österreich:

http://www.solidarische-oekonomie.de, http://www.solidarische-oekonomie.at

(C) Die Autoren changed: 12. Februar 2019