Theoriekultur - Wiki
Christoph Kugler /
Eine Klostergeschichte

 
Die nachfolgende Vision eines ungewöhnlichen Klosters stammt aus dem Jahr 2004.

Ein mittelalterliches Kloster

Ich bin in Zentralfrankreich, unweit von Conque. Ich sitze in einer Kirche, vor mir steht die Skulptur einer kraftvollen Madonna. Plötzlich sehe ich Bilder von großer Deutlichkeit, die zu dieser Gegend gehören. Mauern sind zu sehen, Männer und Frauen, ein Reiter, hinter ihm eine Gruppe bewaffneter Männer. Nach und nach zeigt sich mir die Geschichte.

Es war ein harter Ritt, mit dem Maurice und seine Gruppe das Land durchquerten. Der Befehl des Königs war eindeutig: Jenes Kloster, über das merkwürdige Geschichten erzählt wurden, unverzüglich aufzulösen und die Äbtissin der Inquisition zu übergeben. Die Mönche und Nonnen waren vor die Wahl zu stellen: Entweder sie schworen der Kirche erneut die Treue, dann wurden sie in einem der benachbarten Klöster aufgenommen. Weigerten sie sich, wurden sie ebenfalls der Inquisition übergeben. Das Kloster selbst sollte durch das Feuer vernichtet werden.

Sie hielten sich nirgendwo auf, nach wenigen Tagen erreichten sie ihr Ziel. In der nahen Burg wurden sie schon lange erwartet. Das Kloster hatte den Unmut des Grafen erregt: Männer und Frauen lebten dort, sie verbargen nicht, dass sie ganz im Gegensatz zur Lehre der Kirche auch ihre Körperlichkeit lebten. Niemand wusste Genaues, aber Gerüchte gingen um, dass dort die Sonnenwende gefeiert wurde mit nächtlichen Orgien und dass zahlreiche Kinder zum Kloster gehörten.

Der Befehl des Königs war eindeutig: Keine Verhandlungen, sofortiger Vollzug. Irgend etwas hielt Maurice ab. Seit vielen Jahren war er Sondgesandter des Königs, Gefangene zu machen war seine Aufgabe. Sie verschwanden in dunklen Verliesen. Der König belohnte ihn mit großen Ländereien. Maurice blieb keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Eine Marquise de Polignac wurde seine Ehefrau. Sie blieben sich fremd, und als sie bei der Geburt des ersten Kindes starb, fühlte er nichts. Sein Leben war reine Pflichterfüllung. Gab es irgend etwas, das ihm Sinn verleihen konnte?

In der Nacht vor der Reise hatte er einen Traum: Er ging allein durch die Wüste, barfuß, ohne Weg, aber mit der Gewissheit, dass er so und nicht anders zu gehen hatte. Als er erwachte, wusste er: Sein altes Leben war zu Ende.

Er ließ seine Gruppe in der Obhut Claudes, seines Stellvertreters. Er murmelte etwas von Verwandten, die er besuchen wolle. Aber er pochte an der Klosterpforte. Eine junge Frau öffnete ihm. Sie war gekleidet wie die jungen Frauen überall. Nichts erinnerte an ein klösterliches Leben. „Bring mich zu der Äbtissin!“, herrschte er sie an. Sie sah sein königliches Wappen und gehorchte. Sie gingen durch die Gärten. Männer und Frauen ernteten Obst, fröhlich lachend. Kinder brachten Körbe und trugen das Obst fort.

Er traf Chantal in der Bücherei. Hunderte von Büchern standen in den Regalen, von Hand geschrieben. Still saß sie über ein Buch gebeugt an einem hölzernen Tisch. Auch sie sah das königliche Wappen und wusste sofort, was dieser Besuch zu bedeuten hatte. „Da kommt ihr also. Ich habe euch schon lange erwartet.“

„Ja“, er zögerte, „der König hat mich geschickt. Aber heute Abend komme ich allein, und ich werde allein gehen. Ich bin hier, um mir selbst ein Bild zu machen. Was feiert ihr hier, was lebt ihr: Orgien? Hexentänze? Satansfeste?“

Chantal lachte. „Jahrhunderte lang wurden bei uns die Klöster nach Männern und Frauen getrennt. In der alten Zeit war das anders. In Griechenland gab es die Tempelpriesterinnen, die die Männer in die geistige Welt und in die Welt des Körpers einführten. Im Norden wurden Feste gefeiert, deren Höhepunkt die heilige Hochzeit war, die Vereinigung der Königin mit ihrem Geliebten. Der älteste Epos unserer Welt, der Gilgamesch- Epos, erzählt, wie Gilgameschs tierisches Ich von einer Hure in einen Menschen verwandelt wurde. Gott hat uns nicht auf diese Welt geschickt, damit wir ihr entsagen, damit wir unseren Körper verleugnen. Wir sind hier um ihn zu feiern. In diesem Kloster singen wir nicht nur kirchliche Lieder, wir leben unsere Körper, wir geben uns einander hin, wenn uns danach ist, und ich wüsste nicht, was daran verwerflich sein sollte.“

Es war ein langes Gespräch, das sie in dieser Nacht führten. Maurice wurde ein anderes Leben vor Augen geführt. Oh ja, Chantal nahm ihre religiösen Pflichten ernst. Kontemplation, Gebet und Gesang wurden geübt wie in allen Klöstern. Aber hier wurde auch Körperlichkeit gelebt, von jedem auf seine Weise. „Der Körper ist der Tempel Gottes, ihn zu feiern, ihn zu leben, das ist Gottesdienst.“

Es gab Paare, die sich ein Leben lang treu waren. Es gab Mönche und Nonnen, die enthaltsam lebten, und es gab jene, die keinen festen Partner hatten, sondern dem folgten, was der Augenblick ihnen eingab.

Und doch hatte Chantal es geschafft, dass hier kein Durcheinander entstand. Jeder war verpflichtet, seine Arbeit für die Gemeinschaft zu leisten. Die Wohnhäuser wurden aufgeteilt, wie es der Lebensweise der Bewohner entsprach. Da war das Haus der Paare, das Haus der Enthaltsamen, das Haus der Freien. Chantal wurde von allen anerkannt als Ratgeberin und Äbtissin. Die Kinder der Freien wurden von ihren Mütter erzogen, und alle unterstützen sie dabei.

Lange unterhielt sich Maurice mit Chantal. Noch nie hatte er Gedanken von einer solchen Kühnheit gehört. Sie erzählte von der großen Göttin, die einst der Inbegriff aller Religionen war. Erst die patriarchalischen Religionen begrenzten die göttliche Welt auf einen männlichen Gott, und mit Maria wurde die Frau nur noch als Mutter verehrt, dazu noch als Jungfrau.

Mehr noch begeisterte ihn aber die Erscheinung Chantals: Ein offenes, klares Gesicht, der Körper stolz aufgerichtet, von Weiblichkeit und Autorität strotzend. Er begann zu ahnen, dass Religiösität bedeuten kann, mitten in diese Welt zu gehen und dass es auch für ihn ein Leben gab jenseits der Pflichterfüllung, ein Leben der Freude und der Leiblichkeit, in dem sich Mann und Frau begegnen.

Als sie am frühen Morgen auseinander gingen, berührten sich sanft ihre Hände, und ihre Blicke schmiedeten ein Bündnis.

Zurück bei seiner Truppe sah ihn Claude seltsam an. Er zeigte ihm eine Nachricht. Eine Gruppe von Mauren war in das Gebiet der Franzosen eingedrungen. Maurice ließ sofort aufsitzen. „Das Kloster kann warten. Jetzt gilt es, Frankreich zu retten.“ Wieder traf ihn Claudes Blick, wieder sagte er nichts.

Zwei Tage ritten sie nach Süden. In der Nacht verließ Maurice seine Truppe. Am Morgen fand Claude einen Brief, in dem ihm Maurice den Befehl über die Gruppe übergab.

Maurice ritt zurück zu jenem Kloster. Die Kleidung des königlichen Beauftragten hatte er abgelegt, auch wenn man ihm den einfachen Bauern nicht glaubte, bei seinem prachtvollen Hengst. Doch als er das Kloster erreichte, sah er dort königliche Männer. Der König hatte einen zweiten Trupp geschickt, und der vollzog, was Maurice sich geweigert hatte. In der nahen Stadt sollte das Urteil über Chantal gesprochen werden.

Bangen Herzens ritt Maurice zum Marktplatz. Eine riesige Menschenmenge hatte sich versammelt. Der Scheiterhaufen türmte sich in der Mitte. Eben wurde Chantal herbei geführt. Der Inquisitor verlas das Urteil: „Hiermit verurteilen wir dich wegen unzüchtigen Lebens, Hexerei, Verführung und Unbelehrbarkeit zum Tod durch das Feuer!

Chantal war nackt. Stolz reckten sich ihre Brüste zum Himmel. Das Seil schnitt in ihre glatte Haut, als sie am Pfahl festgebunden wurde. Sie entdeckte Maurice am Ende des Platzes. Sie strahlte ihn an. Laut schrie sie über die Menschen hinweg: „Sei versichert, wir werden uns wiedersehen und vollenden, was hier begonnen wurde'!“ Ihre Augen waren auf ihn gerichtet, bis die Flammen ihren Körper verbargen. Der Geruch von verbranntem Fleisch überzog den Platz. Chantal lachte laut auf, bevor ein schrecklicher Schrei die Häuser erbeben ließ. Jetzt war nichts mehr zu hören, außer dem Prasseln des Feuers.

Die Menge war verstummt.

Maurice sah plötzlich Claude neben dem Inquisitor. Ihre Blicke trafen sich. Claude bahnte sich einen Weg durch die Menge. Schnell verschwand Maurice und verließ den Ort.

Als Pilger wanderte er unerkannt nach Santiago de Compostela. Von dort ging er nicht mehr zurück nach Frankreich, sondern wählte den Weg in den Süden, um von nun an bei den Mauren zu leben.


Danke Christoph für diese wunderschöne Geschichte ! FranzNahrada

Technisches

(Bilder einsetzen)

(C) Die Autoren changed: 4. November 2019