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Evolution Der Keuschheit

 
von Teihard de Chardin

Seit es Religionen gibt, haben sie in ihren höchsten Entwicklungsstufen - im Buddhismus wie auch im Christentum - stets danach gestrebt, sich unter der Form der Keuschheit1 auszudrücken. Dem •Vollkommenen" erscheint die Überwindung der sexuellen Anziehung immer letzten Endes als der höchste Ausdruck für den Triumph des Geistes.

Ich möchte hier den tiefen Wert dieser Haltung nicht bestreiten, sondern ihn sogar rechtfertigen. In seiner Spontaneität und Universalität scheint mir der Ruf zur Keuschheit den unfehlbaren Instinkten des Lebens zu nahe zu liegen, als daß es möglich wäre, ihn als einen überholten Wert zu betrachten.

In dieser wie in so manch anderer Sache glaube ich jedoch zu erkennen, daß wir noch weit davon entfernt sind, die Natur dessen, was wir erspüren, genau erfaßt zu haben. Entwickelt sich nicht das Bewußtsein nur tastend und approximativ? Ich bin sicher, unter der Idee der Jungfräulichkeit verbirgt sich eine wertvolle, signifikative und energiegeladene Wirklichkeit. Aber ich bin nicht weniger sicher: Diese Idee hat weder in der Praxis noch in der Theorie ihre adäquate Ausformulierung gefunden. Der Zweifel stammt aus meiner persönlichen Erfahrung. Er wird verstärkt durch die wachsende Zahl hochgesinnter und vertrauenswürdiger Geister, die in den Einschränkungen der Aszese nichts moralisch Schönes mehr sehen.

Die Keuschheit zeichnet sich nur noch unscharf in unser physisches und moralisches Universum ein. Sie wird weithin in veralteten Wörtern und Systemen ausgedrückt - oder durch einen Komplex disparater Gründe gerechtfertigt, von denen viele uns nicht mehr bewegen. Es geht darum, exakt zu bestimmen, was ihre Vortrefflichkeit ausmacht - und sie damit genau in die Struktur und die Werte der Welt von heute einzufügen. Das ist das Ziel, das wir uns hier vornehmen.

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I. Die christliche Erscheinungsform ("empirisme") der Keuschheit

Das Christentum ist heute die am meisten fortgeschrittene Form der Religion. Aufgrund dieser Tatsache ist es angebracht, in ihm den am meisten entwickelten Ausdruck der Lehre von der Keuschheit zu suchen. Gegenwärtig drückt sich diese Lehre (oder besser, wie wir es nennen werden, diese Praxis) sehr deutlich gemäß den zwei folgenden Richtlinien aus:

1. Die Vereinigung der Geschlechter ist gut und sogar heilig, - dies aber ausschließlich im Hinblick auf die Fortpflanzung.

2. Abgesehen davon müssen die geschlechtlichen Beziehungen aufein Minimum reduziert werden. Das sittliche Ideal (höherstehend auch als die Ehe) ist die Jungfräulichkeit.

Mit diesen beiden Richtlinien wird der ganze Bereich der Möglichkeiten geregelt - und dies auch mit Erfolg. Mit ihnen gelang es, über Jahrhunderte hin, die zwei grundlegenden menschlichen Funktionen, "Fortpflanzung des Menschengeschlechts" und "Vergeistigung" lebendig zu erhalten.

Doch sie sind kaum aufeinander bezogen - sie ergänzen sich nur in der Praxis, ohne in logischer Weise verbunden zu sein. Man spürt unter dieser weisen Zusammenfassung zwei entgegenstehende Gesichtspunkte, die recht unvollkommen aufeinander abgestimmt sind.

Grund dafür ist, daß es für das Gebiet der Sexualität keine gut durchdachte Theorie gibt, sondern nur ein christliches Erfahrungswissen. Schlagen wir doch irgendein Buch der Moraltheologie oder der Aszese auf. Was finden wir darin, das uns im Gebrauch der Sinnlichkeit helfen könnte? Vorschriften (Du categorique)? Ja. Verstehenshilfen (De l'explicatif)?

Nein. Außer einigen isolierten und meist bizarren Ansätzen gibt es keine systematische Darstellung der •formenden Bedeutung" der •heiligen Tugend". Hingegen wird ein sehr ausführlicher und sehr psychologischer Codex von Regeln, von Methoden, von Ratschlägen entwickelt - gestützt auf die traditionelle Praxis der Heiligen und schließlich auf eine kleine Anzahl von Texten aus dem Evangelium. Das ist alles.

Doch dieser •empirische" Charakter ist, wie wir sehen, keineswegs ein Zeichen biologischer Minderwertigkeit. Ganz im Gegenteil. Je breiter die empirische Basis ist, auf der eine Realität in ihrer Entwicklung und in ihrer naturhaften Entfaltung aufruht - desto mehr hat sie Chancen, reich und endgültig zu sein. Jedoch mit dem Auftrag, daß wir sie geistig zu verarbeiten (intellectualiser) suchen.

Nun, welche gefühlsmäßigen oder rationalen Elemente liegen der Verehrung zugrunde, die das Christentum der Keuschheit erweist? - Ich glaube deren eine ganze Reihe zu entdecken, die aber ziemlich weit auseinanderliegen, sei es durch die Motive, die sie ins Spiel bringen, sei es durch den Stand der sittlichen Evolution, den sie widerspiegeln.

Zuerst und grundlegend zeigt sich eine physiologische Voraussetzung, die stärker als man meint die ganze Entwicklung des christlichen Denkens über Sündenfall, Heiligung und Gnade durchzieht. Ich meine die Idee (es wäre treffender zu sagen •die Meinung"), daß die sexuellen Beziehungen von irgendeiner Verderbnis und irgendeinem Schmutz befleckt sind. Durch die materielle Bedingtheit ihres Vollzugs; durch die physischen Folgen, die sich daraus ergeben; durch eine Art Benebelung der Persönlichkeit, die mit ihr einhergeht - rührt die •Leidenschaft" im menschlichen Instinkt an Tierhaftes, an Schande, an Fieber, an Erschrekken, an Furcht, an Geheimnis. Darin liegt schon ursprungshaft, in der Überbordung und in all seiner Schärfe, das ganze (intellektuelle und sittliche) Problem der Materie. Das Sexuelle ist Sünde. Wir werden weiter unten zu zeigen versuchen, was von diesem ursprünglichen •Schrecken" bewahrt werden kann und muß. Hier ist festzuhalten, daß sein Einfluß vom Judentum ererbt (trotz der Heiligkeit, die der Ehe zuerkannt wird) ins christliche Verständnis der Keuschheit Eingang gefunden hat: "Hi sunt qui cum mulieribus non sunt coinquinati."

Nach dem physiologischen Element nun das soziale Element. Man würde das religiöse Phänomen entstellen, reduzierte man es zu einer Schutzvorrichtung, die die Gruppe gegen das menschliche Individuum aufbaut. Doch ohne diese auf die Gemeinschaft bezogene Funktion hätte man nicht die ganze Religion im Blick. Denn was gibt es für die menschliche Gesellschaft Wichtigeres als die Erhaltung und die Entwicklung der menschlichen Fortpflanzungskräfte? Was das betrifft, braucht es eine strenge Verhaltensregel, um die beste Ordnung aufzubauen und gegen Übeltäter zu verteidigen. Aus dieser Sorge für das •öffentliche Wohl" erklärt sich im Christentum weithin die Schwere der Strafen, der Drohungen, der Verurteilungen, die über die Fehltritte des Fleisches verhängt werden - aber auch das überschwengliche Lob der Keuschheit. Der Brand schwelt im Bauwerk Mensch. Es ist sicherer, das Haus unter Wasser zu setzen.

Das ist sozialer Tutiorismus4, aber auch individueller Tutiorismus. In wohl überzogenem Maße (weil nicht ausgeglichen) hat das Christentum im eigenen Verhalten den Gedanken der Verurteilung und des Schuldigseins [franz. •couple"?] bis zur Überspannung entwickelt. Der Seele wird die große Aufgabe vor Augen gestellt, sich selbst zu retten, und dies durch Absage an die Sünde. Daher stammt die Aszese, die für das Gebiet der Sexualität so restriktiv ist. Um sich nicht dem Taumeln auszusetzen, muß man sich möglichst weit vom Abgrund entfernt halten: fliehen. Um den Verlockungen der Genüsse nicht zu erliegen, muß man schon die Anreize der Lust unterdrücken und sich in Zucht nehmen: Enthaltsamkeit und Buße.

Nur für sich genommen läßt sich diese Praxis weitgehend verteidigen. Sie enthält die Elemente einer wertvollen Hygiene. Aber es beunruhigt immer mehr, sehen zu müssen, wie sich dies allmählich umgestaltet zu einem praktischen System, in dem stillschweigend dem Schmerz und dem Opfer eine Art absolute heiligmachende Qualität zuerkannt wird. Diese merkwürdige Umkehrung der natürlichen Werte heiligt zunächst den Wert der Keuschheit als moralisches Eunuchentum verstanden - und sie hat all der Virtuosität der großen Bußpraxis den Weg bereitet. Zur Ehre des Evangeliums muß jedoch gesagt werden: Diese Aszese ist in den Augen der Christen nur insoweit legitim, wie sie sich in eine subtile Mystik hinein entfaltet. Wenn der wahrhaft Gläubige eine so ängstliche Liebe für die restriktive Praxis der Keuschheit hegt, dann darum, weil er darin das notwendige Mittel sieht, die Blüte der Liebe zu retten - und dies folgendermaßen. Für jede Religion, die dieses Namens würdig ist, bedeutet anbeten, sich in der Form des Einswerdens in Gott hinein zu verlieren. Im Christentum aber, in dem Gott als höchst personal verstanden wird, erhält dieses Einswerden einen genauen Sinn. Es nimmt die Gestalt innigster Vermählung an. Die heilige Seele ist gewissermaßen die •mit Christus Vermählte".

Aus dieser grundlegenden Sicht heraus wurde die Keuschheit in der christlichen Tradition (und darin liegt ihre ganze Stärke und ihre Schwäche) als eine Übersetzung der idealen Verhaltensnorm irdischer Liebespaare auf die Beziehung •Mensch-Gott" verstanden. Das aber schließt ein: Jungfräulichkeit im Bereich der Materie; und besonders - was dann sehr einleuchtet: Bewahrung der Liebeskräfte. Keusch sein ist also eine Sache des Herzens. Vorher bewegten wir uns noch im physiologischen Halbschatten. Nun endlich sehen wir das leuchtend Menschliche. Die christliche Keuschheit ist von ihrem idealen Ziel her gesehen eine Übertragung der liebenden Treue ins Religiöse.

Wenn wir weiter unten die überaus delikate Frage nach der Evolution der Keuschheit direkt behandeln, wird es daher der Begriff der •Treue" sein, der in erster Linie kritisch zu beleuchten ist. Stellen wir hier einfachhin fest: Im Einklang mit einer jüdisch-orientalisch verkündeten Verzichts- und Bußaszese hat sich diese Treue im Christentum bisher vor allem in Begriffen der Enthaltsamkeit ausgedrückt. Dies so sehr, daß die gesamte Theorie der christlichen Heiligung, die (zu Recht) auf die Sublimation der Liebe zentriert ist, darauf hinausläuft, ihren Höhepunkt in einer Art Loslösung von der Materie zu finden.

Das authentische Christentum hat die Materie nie verurteilt. Es hat sie im Gegenteil ständig gegen die häretischen Monisten und Manichäer verteidigt. Es nährt sich von sakramentalen Handlungen. Und es lebt in der Hoffnung auf eine Auferstehung. Aber dieses Sich-Kümmern um den Leib verbündet sich mit einem seltsamen Mißtrauen gegenüber den Gütern der Erde. Die Geschöpfe sind gut; und doch sind sie nicht gut. Die Welt hätte so geschaffen sein können, wie wir sie sehen; und doch trägt sie eine geheime Perversion in sich. Und so sehen wir uns wieder mit dem Komplex des (noch ungenügend durchdachten) Begriffs der Erbsünde konfrontiert!

In dieser doch etwas zwiespältigen Situation gilt für den Christen die Weisung (wie das Buch der Nachfolge5 sagt), lieber weniger zu nehmen als mehr. Er wird seinen Leib retten, indem er ihn verliert. Er wird die Materie sublimieren, indem er sie entkräftet. Das Fleisch, das um die geistige Seele herum geformt ist, bedeutet zwar keine luftige oder nebulöse Atmosphäre, aber ist ein Zweites. Dieser vom Schöpfer seltsamerweise neben den Geist gestellte Satellit ist aus dunklen Gründen unzuverläßlich und gefährlich. Darüber hinaus ist er noch lasziv. Man muß ihn in Banden halten - und so ihm wirklich dienen.

Daraus folgt logischerweise, daß der Heilige zum Maximum seiner Vollkommenheit durch minimalen Gebrauch der Materie gelangt - und ganz besonders der Materie in ihrer lebendigsten Gestalt (la plus virulente): dem Weiblichen.

II. Eine neue Moralität der Materie

Das Christentum hat also die Praxis der Keuschheit weiter vorangebracht als irgendeine andere Religion. Es hat Jahrhunderte hindurch in der Jungfrau Maria die vollkommenste Gestalt der Keuschheit entwickelt und sie liebevoll bedacht. Sie bildet bis zur Stunde den sichersten Schutz und wertvollsten Schatz dieser Praxis.

Noch vieles ist nötig, damit das Tugendideal, das dadurch bewahrt und verbreitet werden soll, die Stärke und Reinheit seiner ursprünglichen Anziehungskraft auch gegenüber unseren modernen Einsichten behält.

Lange Zeit fast widerspruchslos anerkannt - dann durch die Reformation stark in Zweifel gezogen - ist der moralische Wert der Keuschheit (oder zumindest ihr Sinn und die überlieferte Praxis) dabei, für viele von uns seine Einsichtigkeit zu verlieren. Dieses Phänomen darf nicht einfach der menschlichen Verderbtheit angelastet - und konsequenterweise verachtet werden. Man muß ihm loyal ins Anlitz schauen. Und dann zeigt sich, daß es unter mehr als einer Rücksicht nicht die Züge eines Rückschritts hat, sondern sich •entpuppt" als von einem höheren Ideal angezogen.

An der Basis der Einwände, die das moderne Bewußtsein gegen die Lehre des Evangeliums von der Reinheit erhebt - also tiefer gründend also jeder Gedanke an heidnische Emanzipation -, glaube ich ein '''Erwachen der Religion des Geistes''' zu erkennen.

Einerseits ist die ganze phvsiologische wie auch die soziale Seite der Keuschheit implizit damit in Frage gestellt: Das Interesse an der Jungfräulichkeit oder der materiellen Unversehrtheit des Leibes ist uns so uneinsichtig geworden, als sei es der Kult eines Tabus. Und andererseits zieht uns doch die siegreich bestandene Bewährung hundertmal mehr an als die Bewahrung der Unschuld - und dies aus Gründen, die wir später untersuchen werden: Der sittliche Wert von Handlungen bemißt sich für uns seitdem nach dem geistigen Elan, den sie verleihen [und nicht an dem aszetischen Verzicht, aus dem sie stammen, JS].

Im Extremfall drückt sich die Verachtung, die man für die materielle Seite der Keuschheit empfindet, in einer radikalen und einfachen Lösung aus. •Eigentlich", sagt man oft, •von der Moral und der Religion her gesehen, ist das Geschlechtliche ohne Belang. Man könnte ebensogut auch den Gebrauch des Magens moralisieren. Was diesen Bereich seiner selbst anbetrifft, muß der Mensch selbstverständlich sorgfältig auf die Hygiene und die Mäßigkeit achten. Er wird bei maßvollem Umgang inneres Gleichgewicht und Freude in seinem Tun finden. Aber daß die Keuschheit des Leibes mit der Tugend der Seele zu tun haben soll, können wir uns nicht vorstellen, Es gibt überhaupt keine direkte Verknüpfung von Heiligkeit und Geschlechtlichkeit."

Diese Auffassung, daß es im Bereich des sittlichen Wachstums eine Unabhängigkeit der beiden Veränderlichen •Geist" und •Materie" geben könne, gefällt mir nicht. Sie entspricht weder dem Grund-Gespür, das die Menschen hat vermuten lassen, in der Tiefe der Keuschheit liege etwas Kostbareres als nur reine •Selbstbeherrschung" - noch entspricht sie schlechthin den auf Einswerden ausgerichteten Gesetzen der biologischen Entwicklung. Sie ist überdies nur ein unmittelbarer Ausdruck oder eine Ungeduldsäußerung, die auf dem Boden der Reaktion entstanden ist, mit der das moderne Bewußtsein den höheren Wert der Keuschheit bezweifelt. Da scheint mir die andere Sicht (die seriöseste Basis der Psychoanalyse), wonach die Energie, aus der sich unser inneres Leben nährt und aufbaut, vom Ursprung her leidenschaftlicher Natur ist, enger mit der Tiefenentwicklung unseres Denkens verbunden zu sein.

Der Mensch ist, wie jedes andere Lebewesen, von Natur her ein Streben nach sich-ergänzender Einheit, eine Mächtigkeit des Liebens. Das hat vor langer Zeit Plato schon gesagt. Wurzelnd in diesem uranfänglichen Elan entwickelt sich, steigt empor und verästelt sich der üppig wachsende Reichtum des intellektuellen und des Gefühlslebens. Unsere geistigen Verästelungen, so hoch und weitreichend sie auch sein mögen, wurzeln im Körperlichen. Aus den Reserven der Leidenschaft des Menschen steigen umgewandelt die Wärme und das Licht seiner Seele empor. In seinen Leidenschaften schon finden sich uranfänglich und keimhaft für uns die feinste Blüte, die zarteste Triebkraft aller geistigen Entwicklung, wie in konzentrierter Form.

Selbstverständlich ist letztlich nur der Geist es wert, daß man ihn erstrebt. Aber auf dem Grund unseres Wesens herrscht zwischen Geist und Materie ein Gefüge sensibler und grundlegender Zusammenhänge. Es ist nicht nur so, wie die christlichen Morallehrer sagen, daß eins das andere stützt. Vielmehr wird das eine aus dem anderen geboren. Man darf deshalb nicht mehr einfach sagen: •Um das Schwergewicht des Leibes zu mindern, enthaltet euch."6 Sondern: •Um den Elan des Geistes lebendig zu erhalten, pflegt euren Leib." - An der Basis der Religion (oder Moral) des Geistes zeigt sich eine neue Auffassung der Moral der Materie. Die Idee, daß der Geist ganz und gar im Durchgang durch die Materie entsteht, (anders gesagt: die Idee einer geistigen Potenz der Materie), ist vom Ursprung her weiterreichend als das Problem der Keuschheit. Sie entspringt der ungeheuren Erfahrung der Menschen, die im Laufe eines Jahrhunderts das Angesicht der Welt für uns völlig erneuert hat: der Entdeckung der universalen Zeit und der Evolution. Bis etwa zum 18. Jahrhundert wurden die Konflikte im Bereich der Moral zwischen zwei klar abgegrenzten Gruppen ausgetragen: den Spiritualisten und den Materialisten. Diese behaupteten, man verwirkliche das Leben, indem man sich der Natur, so wie sie ist, erfreue. Jene predigten, es sei im Gegenteil nötig, den Staub der Dinge so rasch wie möglich abzuschütteln. Aber die einen wie die anderen nahmen stillschweigend an, die Welt habe sich niemals entwickelt - oder sei zumindest endgültig zum Stillstand gekommen. - Aber dann ist durch alle Fugen des Denkens und des Erfahrens das Bewußtsein in uns eingedrungen, daß das •Universum um uns herum" noch in Bewegung ist wie ein ungeheurer Speicher voller Lebensmöglichkeiten. Man hielt die Materie für erstarrt oder erschöpft. Sie hat sich aber als unversiegbar reich an neuen psychologischen Energien erwiesen. Man glaubte, es gebe nichts Wesentliches mehr zu entdecken. Wir merken aber, daß alles erst noch zu finden ist. Um ein Haar hätten die •Vollkommenen" die Welt weggeworfen wie eine ausgepreßte Zitrone. Wir schaudern beim Gedanken an solch eine Geste, die rundweg den Aufbruch des Geistes, der noch im Werden ist, abgestoppt hätte. Und als wir dann im Licht dieser Entdeckung andere Wertungen überprüften, merkten wir, daß die Umwandlung unserer geistigen Einschätzung der Materie Schritt um Schritt, faktisch wie theoretisch unser affektives und sensibles Leben beeinflußte. Die Frau ist für den Menschen Symbol und Personifikation aller Komplementarität geworden, die man im Universum findet. Das Problem, wie die Erkenntnis sich praktisch und theoretisch vollendet, hat sein natürliches •Klima" im Problem der Sublimation der Liebe gefunden. Am Endpunkt der geistigen Potenz der Materie steht die geistige Potenz des Fleisches und des Weiblichen.

Wenn ich mich nicht täusche, berühren wir hier den Ursprung des Zwiespalts, der unsere modernen Sympathien von der herkömmlichen Verehrung der Keuschheit abzuwenden scheint. Die christliche Tugendordnung baut offenbar auf der Meinung auf, daß die Frau für den Menschen wesentlich ein Instrument der Fortpflanzung sei. Die Frau (diene) für die Ausbreitung der Menschheit - sonst habe sie als Frau keine Bedeutung7: Das ist das von den Moralisten aufgestellte Dilemma. Aber gegen diese Vereinfachung erheben sich unsere wertvollsten und sichersten Erfahrungen. So fundamental für die Frau auch die Mutterschaft ist, sie ist beinahe nichts im Vergleich zu ihrer geistigen Fruchtbarkeit. Die Frau bringt zur Entfaltung, sensibilisiert, führt zu sich selbst den, den sie liebt. Diese Wahrheit ist so alt wie der Mensch. Damit sie aber voll zur Geltung kam, mußte die Welt eine Stufe seelischen Bewußtseins und sozialer Entwicklung erreichen, auf der in einer weit ausgebreiteten und wirtschaftlich gesicherten Menschheit die Frage nach dem täglichen Brot und der Nachkommenschaft zurücktrat vor den Problemen der Erhaltung und Entwicklung der geistigen Energien. In der Tat: Trotz der weitverbreiteten Auswirkungen des moralischen Rückgangs und der Freizügigkeit scheint die derzeitige •Freiheit" der Sitten ihre wahre Ursache dort zu haben, wo nach einer Form von Einung gesucht wird, die reicher und geistig anregender ist als jene, die sich auf den Horizont einer Wiege beschränkt. Das ist ein Symptom, das wir folgendermaßen deuten:

Die Liebeskräfte zeigen, daß im Herzen der Menschheit eine gewisse Kraft zur Entfaltung lebt, die jene unendlich übersteigt, die in der Erhaltung der Nachkommenschaft aufgeht. Die alte Meinung von der Keuschheit setzte voraus, dieser Elan könne und müsse direkt auf Gott hingelenkt werden, ohne es nötig zu haben, sich auf das Geschaffene zu stützen. Dabei wurde übersehen, daß eine solche, noch weithin als bloße Möglichkeit verborgene Energie (wie auch all die anderen geistigen Potenzen der Materie) danach strebt, auf den natürlichen Bahnen [ihrer noch schlummernenden Möglichkeit, JS] sich weiter zu entwickeln. In der Tat ist beim derzeitigen Stand der Welt der Mann durch die Frau noch nicht ganz zu sich selbst gekommen wie auch umgekehrt. Wegen der evolutiven Struktur des Universums sollte deshalb der eine vom andern im Laufe ihrer geistigen Entfaltung nicht getrennt werden. Nicht isoliert (verheiratet oder nicht verheiratet), sondern als Paar müssen die beiden Teile der Natur, der männliche und der weibliche, zu Gott emporsteigen. Man hat gefordert, die Geschlechtsunterschiede durch den Geist zu unterdrücken. Doch dies nur, weil man nicht begriffen hat, daß ihre Zweiheit sich auch im Gefüge des vergöttlichten Seins wiederfinden muß. Schließlich ist der Mensch - so •sublimiert" man sich ihn auch denken mag - kein Eunuch/Nicht auf einer •Monade", sondern auf der menschlichen •Dyade" ruht die Spiritualität.

Es gibt eine allgemeine Frage des Weiblichen, die in der christlichen Theorie der Heiligkeit bis heute ungelöst und unentfaltet geblieben ist. Daher unser Unbefriedigtsein und unser Unbehagen gegenüber der alten Tugendlehre. Man sprach davon, die natürlichen Äußerungen der Liebe zu bagatellisieren. Wir aber stellen fest, daß nichts anderes in Frage kommt, als sie zu packen und umzuformen. Nicht einschränken, sondern überschreiten. Das ist unser neues Ideal der Keuschheit.

III. Der Geist der Keuschheit

Wenn man einmal begriffen und insbeondere erfahren hat, was die Worte: •Geistige Potenz der Materie" bedeuten, so sieht man zunächst den klassischen, zwischen Heiligkeit des Leibes und Heiligkeit des Geistes errichteten Gegensatz verschwinden. Die materielle Schöpfung stellt sich dann nicht mehr wie eine Wolke oder ein Hindernis zwischen Mensch und Gott. Sie entfaltet sich wie eine erhebende, bereichernde Umwelt, die nicht zu meiden oder loszulassen, sondern zu realisieren und zu durchschreiten ist. Recht gesehen gibt es daher keine heiligen oder profanen, keine reinen oder unreinen Dinge. Es gibt nur einen guten und einen schlechten Richtungssinn: Die Richtung des Aufsteigens, der weitmachenden Einung, des möglichst großen geistigen Elans; und die Richtung des Abstiegs, der einengenden Selbstsucht, des materialisierenden Genießens. Der Sinnrichtung nach oben folgend sind alle Geschöpfe leuchtend; geleitet von der Sinnrichtung nach unten erweisen sie sich als finster und geradezu diabolisch. Auf seiner Fahrt wird unser Boot gehemmt oder im Gegenteil vorwärtsgetrieben, je nachdem es uns gelingt, unsere Segel in deren Wind zu setzen. Bisher hat die Aszese eher verworfen: um heilig zu sein, mußte man vor allem entsagen. Künftig wird der geistige Verzicht, auf Grund der neuen moralischen Qualität, die in unserer Sicht der Materie zukommt, die Gestalt einer Eroberung annehmen.

In die Flut der geschaffenen Energien eintauchen, um erhoben zu werden und um zu heben - ohne die erste und die glühendste unter ihnen davon auszunehmen. Die Keuschheit (wie der Verzicht, die •Armut" und die anderen evangelischen Tugenden,) ist vom Wesen Geist (un esprit). Damit beginnt sich vor uns eine umfassende Lösung für das Problem des Weiblichen abzuzeichnen.

In sich betrachtet steht das Ablösen durch Hindurchgang in vollkommener Harmonie mit der Idee der Menschwerdung, in der das Christentum zusammengefaßt ist. Die Bewegung des Menschen, der in die Welt eintaucht, um zuerst an den Dingen teilzuhaben, dann um sie mit sich zu ziehen, - diese Bewegung, sage ich, ist Nachvollzug der Taufhandlung:

•Wer ist der, der hinaufsteigt", sagt der heilige Paulus8, •wenn nicht der, der zuvor herabgestiegen ist, um alles zu vollenden." Es ist also nur natürlich, daß die Kirche Gottes unter dem Antrieb dieser menschlichen Sinnrichtung, die sie doch kanalisiert, Schritt für Schritt korrigiert, was in der Theorie der Entsagung ein wenig zu •orientalisch" (oder negativ) sein mochte. Die eher neue These, daß die christliche Vollkommenheit weniger darin besteht, sich vom irdischen Staub zu reinigen, als vielmehr die Schöpfung zu vergöttlichen, ist ein Fortschritt. Man beginnt in den kon servativsten Kreisen anzuerkennen, daß sich in Ausstrahlung (nimbant) der Eucharistie eine Communio mit Gott durch die Erde findet - ein Sakrament der Welt. Zwar mißt man der irdischen Nahrung solche Bedeutung bei, doch man hält weiterhin eifersüchtig an einem Vorbehalt fest. Ganz wie im biblischen Paradies sind dem Vollkommenen jetzt die Mehrzahl der Früchte erlaubt. Falls er sich hingezogen, die •Berufung" fühlt - stehen ihm die Freuden des künstlerischen Schaffens zu, die Errungenschaften des Denkens, die Eroberungen des Entdeckens. Diese Erfüllungen werden als heiligend oder als heilig-zu-machen anerkannt. Aber ein Baum bleibt vom ursprünglichen Verbot gebrandmarkt: der des Weiblichen. Und so stehen wir wieder vor dem immer wiederkehrenden Dilemma: Entweder die Frau in der Ehe - oder die Flucht vor dem Weiblichen. Warum diese Ausnahme? Warum diese Unlogik?

Ich sehe dafür zwei Hauptgründe: der eine stammt aus praktischer Vorsicht - der andere aus einem Ideal oder einer Theorie.

Aus praktischer Vorsicht wird das Weibliche unter die verbotenen Gaben der Natur eingereiht, weil es zu gefährlich ist. Es ist ein Parfüm, das verwirrt - ein Likör, der betäubt. Seit eh und je haben die Menschen die unberechenbare Macht dieses Elements bestaunt. Und die Weisen haben schließlich ihren Gebrauch auf die wesentlichen Fälle eingeschränkt, da man es nicht vollkommen unterdrücken könne. Man mißtraut nicht etwa (wie man es logischerweise tun müßte, vielleicht...) der Leidenschaft für Ideen und Zahlen oder gar der Hinneigung zu den Sternen und zur Natur. Weil von diesen Wirklichkeiten (sehr zu Unrecht) angenommen wird, sie sprächen nur zum Verstand, betrachtet man sie als ungefährlich oder als leicht zu vergeistigen. Die sexuelle Anziehung hingegen erschreckt wegen der komplexen und dunklen Triebe, die sie ganz plötzlich zu wekken droht. Es scheint, als sei die Liebe in der Tiefe unserer selbst ein schlafendes Ungeheuer, dessen wir uns zeitlebens nur erwehren können, wenn es uns gelingt, es nicht aufzuwecken.

Ich werde mich sehr hüten, die zerstörerischen oder auflösenden Mächte der Leidenschaft in Abrede zu stellen. Ich gebe sogar zu, daß die Menschen abgesehen von der Zeugungsfunktion die Liebe vor allem zu ihrem Verderben und um sich zu berauschen benutzt haben. Aber was beweisen diese Exzesse? Weil die Flammen verzehren und die Elektrizität erschlägt, hören wir auf, sie dienstbar zu machen? Das Weibliche ist die furchtbarste unter den Kräften der Materie. Das ist wahr. •Also muß man sie meiden", sagen die Moralisten. •Also muß man sich ihrer bemächtigen", erwidere ich. In allen Bereichen der (physikalischen, affektiven, intellektuellen) Wirklichkeit ist die •Gefahr" ein Zeichen von Mächtigkeit.

Sind es denn nicht eben die Berge, die die Abgründe schaffen? Die gängige christliche Gewissenserziehung bringt uns dazu, Tutiorismus mit Vorsicht, Sicherheit mit Wahrheit zu verwechseln. Das Risiko eines Fehltritts zu vermeiden, ist in unseren Augen wichtiger geworden, als für Gott eine schwierige Situation zu bestehen. Das ist es, was uns umbringt. •Je gefährlicher eine Sache ist, desto mehr gebietet das Leben ihre Eroberung." Aus dieser Überzeugung ist die moderne Welt entstanden. Aus ihr muß auch unsere Religion wiedergeboren werden. - Um das grundsätzliche Verbot, das ein gewisser christlicher Aszetismus zum Umgang mit dem Weiblichen erläßt, zu rechtfertigen, nützt es nichts, uns die Gefahren eines Abenteuers vor Augen zu stellen. Diese ziehen uns doch nur noch mehr an, wenn wir eine •abenteuerliche" Seele haben. Um auf das Besteigen dieses Gipfels zu verzichten, erwarten wir, daß man uns klar macht, warum der Aufstieg uns nicht näher zu Gott führt.

Der zweite Grund (diesmal ein positiver), um den Einfluß der Frau aus dem Herzen der Vollkommenen zu bannen, wird von der traditionellen Aszese im Ideal der •Treue" gesucht, von dem wir zu Beginn dieser Seiten gesprochen haben. Was Gott vom Christen verlangt, das ist sein Herz. Es kommt darauf an, ihm dieses Herz zu bewahren, ungeteilt. Was aber ist es, das das Herz teilt? Etwa außer dem Geliebten noch etwas anderes zu lieben? Vielleicht. Aber diese Anhänglichkeit, die dem materiell oder abstrakt Anderen zugestanden wird, läßt sich korrigieren, wiedergutmachen.

Sie erreicht ja nur die Oberfläche. Schwerwiegender, ja tödlich ist es, sich einem Anderen selbst zuzuwenden: Jemanden zu lieben. Sich als Christ leidenschaftlich der Wissenschaft oder dem Denken hingeben - oder jeder anderen unpersönlichen Sache, ist noch möglich, weil diese Reize, unlebendig wie sie sind, durch uns vergöttlicht werden können. Aber die Frau, sie steht für etwas Personalisiertes, sie ist eine Weise des Seins, die in sich selbst geschlossen und wie etwas Absolutes dasteht. Es ist unmöglich, sie in unser inneres Gefüge einzulassen, ohne in einem gewissen Maß die Einheit der Kraft, die uns nach oben ziehen muß, zu beeinträchtigen. In Sachen der Liebe kann man nicht, weniger noch als sonstwo, zwei Herren dienen. Dies ist das Schlußwort der Verteidiger der •alten" Keuschheit.

Ganz allgemein schon muß ich gestehen, daß ich einer Lehre mißtraue, die unser Herz mit einem Glas Wasser vergleicht, das durch Teilen leerer wird. Ich habe schon gesagt, daß ich davon überzeugt bin: Unsere Leidenschaftlichkeit ist ein feinfühliger Organismus, dessen Reserven wir allzu oft verschwenden, indem wir schlecht lieben. Ich habe aber Schwierigkeiten anzunehmen, daß sich unser Herz notwendigerweise für den einen schwächt, wenn es sich (unter einem anderen Gesichtspunkt oder in hierarchischer Abstufung) einem anderen zuwendet. Ich kann zwei Blumen schön finden - und von der einen meine empfindsamer gewordenen Augen der andern zuwenden. Eine Fähigkeit wird durch ihre Anwendung reicher. Es ist natürlich wahr, daß im Spezialfall der Liebe, der Gatte der Gattin jene privilegierte Stellung vorbehalten und festigen muß, die sie gewissermaßen zur Sonne seines inneren Universums macht. Und hierbei hat die Eifersucht recht: Es kann am Himmel unseres Herzens nur eine Sonne geben. Aber untergeordnete Gestirne, warum nicht? Diese Überlegungen scheinen mir schon spürbar den psychologischen Wert des •Gesetzes der Abschirmung" des Herzens abzuschwächen, auf das sich die Verteidiger einer Keuschheit •des Verzichts" berufen. Aber wir können in unserer Antwort noch weitergehen. - Um die Verhaltensregel der Keuschheit zu bestimmen, pflegt man Gott und die christliche Seele •univoce"9 mit zwei Liebenden zu vergleichen. Das aber heißt die wesentliche Tatsache vergessen, daß Gott keine Person gleicher Ordnung ist wie wir. Er ist eine •Überperson,,, ein •Überzentrum", - das heißt jemand, der tiefer ist als wir selbst. Das will sagen: Wenn ein Mann eine Frau zur Mitte seines Herzens macht, so folgt nicht notwendig daraus, daß dieser Mann sich gegenüber dem •Göttlichen" affektiv neutralisiert vorfindet. Die göttliche Sonne kann (weil'viel tiefer) noch durch das weibliche Gestirn hindurch wahrgenommen werden. Sie kann - und dies sogar mit erhöhtem Glanz - auf der gleichen Ebene und darüber hinaus leuchten.

Das Liebespaar kann, selbst wenn seine Liebeskraft gegenüber anderen menschlichen Personen erschöpft ist, sich frei und aufgrund seiner Zweiheit sogar intensiver der höheren Anziehungskraft Gottes aussetzen. Es gibt eine Art zu lieben, die nicht unter den Vorwurf des •Teilens" fällt, den der Apostel Paulus10 erhoben hat *). Ein chimärischer11 Fall des Teilens werden Sie sagen. Aber gehen wir damit nicht noch einmal an der Verwirrung zugrunde, die zwischen Vorsichtsmaßregeln und Werturteilen angerichtet wurde? - Nein, das Weibliche darf aus den christlichen •Nahrungsmitteln" nicht ausgeschlossen werden. Es ist durch seine außerordentliche Macht sogar etwas Besonderes. Weniger als irgendein anderer Bereich der Materie sollte es sich der siegreichen Herrschaft des Geistes entziehen.


  • Anm. Teilhards: Die Keuschheit zieht uns zu Recht durch ihre Austrahlungskraft von
Freiheit an. Es gibt in der Tat Beschäftigungen, die den ganzen Menschen anfordern. Doch wenn man darüber nachdenkt, wird klar: Das, was fesselt und trennt, ist nicht die Frau, sondern entweder die Familie oder die Frau als fleischlich Geliebte. Eine •edle" Leidenschaft schenkt Flügel. Und so ist es das beste Kriterium, um zu erkennen, inwieweit eine Liebe •edel" ist, wenn man beobachtet, inwieweit sie sich in Richtung einer größeren Geistesfreiheit entwickelt. Je spiritueller eine Zuneigung ist, um so weniger fesselt sie - und um so mehr spornt sie an zur Aktion.


Die Keuschheit ist demnach eine Tugend des Teilnehmens und des Eroberns. In keiner Weise eine Schule der Restriktion und der Flucht. Die Reinheit wird uns oft als ein zerbrechlicher Kristall vorgestellt, der sich nur geschützt vor Erschütterungen und Licht unversehrt bewahren läßt. Sie ähnelt aber vielmehr der Flamme, die alles nach dem Maß ihrer Glut assimiliert. - Omnia munda mundis12: Dieses Wort hat sicher etwas Richtiges an sich. Zwischen Geist und Leib ist doch alles eine Frage der •Potentialität". •Brennen oder Gebrannt-Werden."*) Der Materie Flügel verleihen oder durch sie zugrunde gerichtet werden. Das ist durch alle Bereiche hindurch das Gesetz des Lebens. Wie können wir uns einbilden, wir vermöchten dem zu entrinnen, wenn wir den Gipfel (fine pointe13) unseres Seins zu verwirklichen suchen?


  • Anm. Teilhards: In der Frage der Keuschheit stehen im Grunde zwei Theorien einander
entgegen, - zwei Begriffe der Reinheit. •Vor allem keine Sünde, - auch wenn Sie deswegen noch ärmer würden", sagen die einen. •Vor allem mehr Reichtum, - sollten Sie auch dadurch einige Blessuren riskieren", sagen die anderen. Natürlich glauben wir, daß die Wahrheit und die Zukunft bei diesen letzteren sind.

Natürlich kostet es etwas, soweit zu kommen. Wenn eine Frau sich uns naht und wir ihr begegnen, überfällt uns eine Art dunkle Erleuchtung - die Ahnung, daß uns eine neue Welt erwartet und sich in den Tiefen der Materie entfalten will - wenn wir nur die Flügel des Geistes schließen und uns loslassen. Das ist in gefühlvoller Weise (was noch heimtückischer ist als in intellektueller Weise) •die materialistische Illusion". Aber wenn wir uns das Geheimnis des Fleisches ganz zu eigen machen wollen, müssen wir durch eine überlegte Entscheidung, in der das Mühen der Schöpfung selbst sich in unserem Bewußtsein ausdrückt, die falsche Evidenz der Fata Morgana überwinden, die uns nach unten zieht.

Ja, es ist wahr: Die Liebe ist die Schwelle zu einem anderen Universum. Über die Schwingungen, die wir kennen, hinaus ist der Farbenreichtum (iris) ihrer Abstufungen erst im vollen Wachstum. Aber ungeachtet der Faszination, welche die unteren Tönungen auf uns ausüben, ist es allein zum •Ultra" (Darüber-Hinaus), wohin die Erschaffung des Lichtes voranschreitet. In diesen unsichtbaren und wie immateriell erscheinenden Bereichen erwarten uns die eigentlichen Initiationen14 in die Einung. Die Tiefen, die wir der Materie zuschreiben, sind nichts anderes als der Widerschein der Höhen des Geistes.

Dies scheint uns durch die Erfahrung und das menschliche Denken geklärt zu sein.

Die (theoretisch zweitrangige, für die Praxis aber sehr ernsthafte) Frage, die noch bleibt, besteht darin, abzuschätzen, inwieweit im Verlauf der •Spektral'-Verschiebung zu qualitätsmäßig immer höheren Farben hin, die unteren Strahlen weiterleuchten - oder ob sie erlöschen. - Das Zentrum der Anziehung und des liebenden Einanderbesitzens verlagert sich fortschreitend zum Geistigen hin. Höher und höher müssen die Seienden sich gegenseitig folgen, um sich zu finden. Um aber die Fülle der Vergeistigung zu erlangen - um nicht die Kanäle zu unterbrechen, durch welche ihnen die geistigen Potenzen der Materie zufließen -, von welcher Ebene aus müssen sie beginnen, einander in Besitz zu nehmen? Wieviel Leib für ein Höchstmaß an Geist?

Damit sind wir, nachdem wir die schöpferische Funktion von Keuschheit- Geist (chastete-esprit) herausgerarbeitet haben, bei der Frage nach der Jungfräulichkeit angelangt: Was bedeutet sie und was ist ihr Wert.

IV. Der Wert der Jungfräulichkeit

Wir haben es oben schon gesagt. Die materielle Seite der Jungfräulichkeit, bedeutungsvoll für die Urvölker, interessiert uns überhaupt nicht mehr. Diese physische Seite der Tugend hat für uns alle Einsichtigkeit verloren. Aber besitzt die Jungfräulichkeit - viel tiefer als die körperliche Unberührtheit - nicht einen gewissen, verborgenen geistigen Wert, deswegen wir noch, und mehr denn je, gehalten sind, sie zu fördern und sie zu verehren? Es ist an der Zeit, uns dies zu fragen.

Auf den ersten Blick scheint der Gedanke einer Heiligkeit, die in spezieller Weise mit der Enthaltsamkeit verknüpft ist, nicht gerade mit der moralischen Bedeutung übereinzustimmen, die wir soeben der Keuschheit zuerkannt haben. Wenn die Keuschheit ein Geist ist, der sich nährt, warum ihr dann die kräftigste Nahrung entziehen? Ist die Hingabe des Leibes nicht die vollständige und natürliche Weise, in der sich die natürliche Potenz der Materie zur Sublimation anbietet? Wartet nicht der Geist auf den Anstoß dieser Begegnung, um wie ein Funken aufzusprühen? Geht es nicht vor allem darum, diese Ströme, diese Kräfte, welche die physische Liebe freisetzt, herauszufordern, zu erobern, umzuwandeln?

Hier, das muß ich zugeben, sehe ich, meinem eigenen Urteil überlassen, nicht klar •quod non licet"15. Die physiche Vereinigung ist aus naheliegenden Gründen in der Tradition mit dem ausschließlichen Gedanken der materiellen Zeugung verbunden. Eine gewisse •theologische Biologie" lehrt immer noch, es könne eben wegen der Zuordnung der Körper nur so sein, wenn nicht die Naturordnung verletzt würde. Als ob die •Naturordnung" der Welt eine vorgegebene und endgültig fertige Sache wäre - und nicht ein Gleichgewicht, das sich sucht! Als wären unsere Organe von Anbeginn voll ausgebildet gewesen und hätten sich nicht vielmehr im Gegenteil im Lauf der Evolution dem Dienst neuer Anforderungen angepaßt ! Als wäre die Zunge für die Sprache gemacht und nicht zum Sprechen gebraucht worden! Rein nichts von alledem ist haltbar. Je mehr ich so darüber nachdenke, desto weniger komme ich dazu, den Gedanken der Heldin eines russischen Romans absurd zu finden, daß •wir schließlich noch eine andere Form des Liebens finden werden"16. - Die geistige Fruchtbarkeit erobert sich mehr und mehr einen Platz an der Seite der materiellen Fruchtbarkeit - bis sie dann schließlich allein die Einung rechtfertigt. Vereinigung für das Kind. Aber Einung ebenso für das Werk, Einung für die Idee? Warum nicht? - Bei der Vielzahl von Menschen fände jede Form der Verbindung ihre Anhänger; und dies würde keineswegs riskieren, sie vorzeitig zu zerstören. Ist es nicht im Grunde dieser geistige Gebrauch des Fleisches, den instinktiv und ohne die Moralisten um Erlaubnis zu fragen viele Genies, die wirklich schöpferisch waren, entdeckt und sich zu eigen gemacht haben? Und wurde nicht aus diesen unrein genannten Quellen ein Leben geschöpft, von dem heute auch die Konservativsten unter uns sich nähren? Das also ist es, was abstrakt betrachtet ich nicht sehen kann. Aber ebenso spüre ich, wenn ich die theoretische Ebene verlasse, um die Praxis dieser physisch-geistigen Liebe zu erproben oder auch nur dazu einen Rat zu geben, daß mich ein unüberwindliches Hindernis zurückhält, - ich weiß nicht was für ein Instinkt; ein Instinkt, in dem ich etwas anderes erkenne als die meiner Seele mechanisch beigebrachte Gewohnheit; sie ist doch entstanden im langen Umgang mit dem •Du sollst nicht", wie es eine lange Folge von Generationen wiederholt hat. Wäre es eine Befreiung oder nur eine Regression, die Bande der moralischen Pflicht und respektvoller Bewunderung zu zerreissen, die sich im Lauf der Jahrhunderte menschlicher Erfahrung um das Ideal der Jungfräulichkeit geschlungen hat? Könnte da nicht ein verborgenes Motiv vorliegen, weswegen sich dem Geist, der auf dem Gebiet der Keuschheit doch so allmächtig ist, gewisse physische Nährstoffe seiner umgestaltenden Kraft entzögen - und dies kraft eben seiner Vollkommenheit? Um die affektive Enthaltsamkeit des Fleisches - oder wenigstens die Tendenz zu einem möglichst geringen Gebrauch - zu rechtfertigen, scheinen die Moralisten häufig (wir haben es schon gesagt) sich auf Gründe personaler oder kollektiver Sicherheit zu berufen. Verzichten, um nicht zu mißbrauchen. Sich fernhalten, um sich nicht zu verstricken. Nach rechts drängen, um nicht nach links zu geraten. Steigen, um nicht zu fallen. - Für sich allein genommen, wir wiederholen es, genügen diese Gründe nicht. Einerseits wäre die vorgeschlagene Maßnahme von zweifelhafter Wirksamkeit. Sich Gewalt antun bedeutet oft sich verfälschen.

Einschränken tendiert zum Explodieren. Man hat noch nie eine Kraft oder eine Idee beherrscht, indem man sie unterdrückte - sondern nur, indem man sie integrierte. Anderseits: Wenn es eine solche Sache gibt, in der die Religionen übereinstimmen und in der insbesondere das Christentum seine Autorität einsetzte, dann ist es die, daß die körperliche Keuschheit eine Art absoluter Überlegenheit mit sich bringt. Wenn man das Wesen der überkommenen Praxis retten will, ist es deshalb unerläßlich, eine Vollkommenheit zu entdecken, die der Jungfräulichkeit von Natur aus zu eigen ist. In diese Richtung geht, was ich erahne. Die tiefstdringende Interpretation, die wir der Welt geben können, jene, die in allen Mystiken und Philosophien gleichermaßen zum Ausdruck kommt, - besteht darin, sie als eine Bewegung universaler Konvergenz zu sehen, in deren Verlauf die materielle Vielfalt sich im Geist vollendet. Diese Sicht entspricht der grundlegenden und schöpferischen Rolle, die der Anziehungskraft der Liebe zukommt. Sie entwirrt mühelos mit einer einfachen Formel die komplizierten Schwierigkeiten, die sich aus der biologischen, intellektuellen und moralischen Evolution der Welt ergeben. Bedeutet nicht Fortschreiten in jeder Hinsicht soviel wie Sich- Einen? Aus dieser Perspektive heraus zeigt sich Gott als das oberste Zentrum, um das herum sich die darunter liegende Vielzahl anordnet, - der Brennpunkt, aus dem die Materie sich in den Geist hinein vollendet. Akzeptieren wir diese Hypothese - und wenden wir sie auf das Problem an, das uns beschäftigt.

An der Stelle, an der das Leben in der gegenwärtigen Welt angelangt ist, wird die vergeistigende Einung der menschlichen Monaden von zwei Anziehungskräften gleicher Natur, aber unterschiedlicher Werthaftigkeit beherrscht: von der gegenseitigen Liebe zwischen Mann und Frau und von der Liebe zu Gott. Jede von beiden wird, um sich in der Einheit zu vollenden, durch die miteinander verbundenen Kräfte der Leidenschaft und des Mystischen bewegt. Die Einung muß zugleich im Weiblichen ihre menschliche Einheit - und im Göttlichen ihre kosmische Einheit zur Vollendung bringen. All das ist im Grunde die gleiche konvergierende Energie, die gleiche Liebe. Aber die beiden Kräfte wirken nicht unmittelbar in Übereinstimmung zusammen. Wie soll man sie verbinden, um eine Resultante17 zu erzielen, die ein Höchstmaß an geistigem Gewinn bringt? - Das ist die eigentliche Frage, die durch die Keuschheit gestellt wird. Eine erste Anwort, die einem in den Sinn kommt, um das Problem zu lösen, ist diejenige, auf die wir am Anfang dieses Kapitels hingewiesen haben. Der Mann geht zuerst zur Frau. Er vereint sich ihr ganz. Und diese Flamme, die aus dieser ersten Vereinigung auflodert, erhebt sich zu Gott.

Kontakt beider Elemente in der menschlichen Liebe. Und dann Aufstieg zu zweit auf das größere göttliche Zentrum hin. - Dieser Prozeß, so sagten wir, scheint den Vorzug zu haben, am intensivsten die geistigen Kräfte der Leidenschaft für Gott freizusetzen. Er hat unbestreitbar große Wahrheit und große Schönheiten auf Erden zutage treten lassen. Welche Gründe könnten wir haben, ihm zu mißtrauen?

Ich sehe nur einen, aber der ist schwerwiegend. Folgendes: Durch die physische Liebe - so setzten wir voraus - sind die Kräfte des Menschen auf großartige Weise freigesetzt worden. Was sonst in unseren Seelen geschlafen hätte, erwacht und springt vorwärts. Ist das absolut wahr? - Eine andere Möglichkeit bietet sich an. Daß nämlich in der lichtvoll- blendenden Hingabe des Leibes sich eine Art •Kurzschluß" ereignet, - ein Aufleuchten, das einen Teil der Seele absorbiert und neutralisiert. Etwas ist geboren worden, aber es hat sich weithin sofort verbraucht. Was die spezielle Trunkenheit der Ganzhingabe ausmacht, könnte es nicht sein, daß wir darin einen Teil unseres •Absoluten" verbrennen? Und so bietet sich für das Problem der Keuschheit eine zweite Lösung an.

Warum jene Unterscheidung zweier Zeiten in der Einung: Erst die eine Hingabe und dann die andere? Ist es wirklich ohne Verlust möglich, sich zweimal zu schenken? Vielleicht ist der Augenblick gekommen, daß, gemäß den unbeugsamen Gesetzen der Evolution, der Mann und die Frau, vom Leben dazu bestimmt, bis zum höchstmöglichen Grad die Vergeistigung der Erde voranzubringen, die Art und Weise aufgeben müssen, um einander zu vereinen, die bis heute die einzige Regel der Geschöpfe war. Warum sollten sie nicht, wenn sie von ihrer gegenseitigen Anziehung nur das beibehalten, das sie in ihrer Begegnung emporsteigen läßt, sich gleichsam nach vorwärts - einer auf den anderen hin - stürzen? Kein unmittelbarer Kontakt, sondern Konvergenz nach oben. Der Augenblick der Ganzhingabe würde dann mit der göttlichen Begegnung zusammenfallen. Das ist immer noch der Glaube an den geistigen Wert der Fleisches, - aber zugleich wird ein Platz für die Jungfräulichkeit geschaffen. Sie wird in ihrem Wesen zu einer aufgeschobenen Hingabe.

Zwei Lösungen. Zwei Wege. Welcher ist der gute? In diesem Punkt sind die persönlichen Zeugnisse einander entgegengesetzt und widersprechen sich. Von Geburt her, kann ich sagen, habe ich mich für den zweiten Weg engagiert. Ich bin ihm so weit wie möglich gefolgt. Ich habe selbstverständlich schwierige Wegstrecken zurückgelegt. Ich bin mir dabei aber nie benachteiligt, nie verloren vorgekommen.

Und jetzt, von der Stufe aus, auf der ich angelangt bin, scheinen sich mir um mich herum folgende zwei Phasen in der schöpferischen Umformung der menschlichen Liebe abzuzeichnem. - Im Verlauf einer ersten Phase der Menschheit: Mann und Frau, hingegeben dem physischen Sich-Schenken und der Sorge um die Nachkommenschaft, entwickeln um dieses fundamentale Tun herum einen wachsenden Strahlenkranz des geistigen Austauschs. Zuerst war es ein kaum merkbarer Schimmer am Rande; die Fruchtbarkeit und das Geheimnis der Vereinigung verlegen sich immer mehr dort hin; zuletzt neigt sich die Waage in ihrem Gleichgewicht ganz zu dessen Gunsten. Aber genau in diesem Augenblick erweist sich das Zentrum der physischen Vereinigung, von der das Licht ausströmte, als unvermögend, dieses neue Anwachsen zu integrieren. Der Brennpunkt der Anziehung verschiebt sich plötzlich wie ins Unbegrenzte nach vorn. Und um sich einander weiter darüber hinaus im Geist zu ergreifen, müssen die Liebenden dem Leib den Rücken kehren, um sich in Gott zu suchen. Die Jungfräulichkeit legt sich über die Keuschheit wie das Denken über das Leben: durch eine Wende oder durch einen kritischen Punkt (un point singulier).

Auf dem Erdenrund kann eine solche Umwandlung natürlich nicht in einem Augenblick erfolgen. Es bedarf dazu wesentlich der Zeit. Das Wasser, das man erhitzt, verdampft nicht alles auf einmal. Bei ihm laufen eine •flüssige Phase" und eine •gasförmig Phase" lange nebeneinander. Das muß so sein. Aber auch dieser Dualität liegt nur ein einziges Geschehen zugrunde, - dessen Sinn und •Wertigkeit" sich auf das Ganze bezieht. - So behält zur Stunde die körperliche Vereinigung ihre Notwendigkeit und ihren Wert für das Menschengeschlecht. Aber ihre geistige Qualität ist von nun an durch die höhere Art der Einung bestimmt, die sie nährt, nachdem sie sie vorbereitet hat. Die Liebe befindet sich im Begriff der •Zustandsänderung" im Schoß der Noosphäre18. Und, wenn die Religionen Recht haben, bereitet sich in diese neue Richtung hinein der kollektive Übergang der Menschheit auf Gott hin vor.

So stelle ich mir die Evolution der Keuschheit vor. In der Theorie ist diese Umwandlung der Liebe möglich. Für ihre Verwirklichung genügt es, daß der Anruf des personalen göttlichen Zentrums genügend stark empfunden wird, um die natürliche Anziehung zu meistern, die die Paare der menschlichen Monaden veranlaßte, sich vorzeitig aufeinander zu stürzen.

In der Praxis - und ich verhehle mir das nicht - erscheint die Schwierigkeit des Versuchs so groß, daß alles, was ich auf diesen Seiten geschrieben habe, von neun Zehnteln der Menschheit als Naivität oder Verrücktheit bezeichnet wird. Ist die Erfahrung nicht allgemein und schlüssig, daß die geistigen Liebesbeziehungen immer im Schmutz geendet haben? Der Mensch ist geschaffen, um auf dem Boden zu marschieren. Hat man je die Idee gehabt, zu fliegen ...!

Ja, Verrückte haben diesen Traum gehabt, würde ich antworten. Und eben deswegen gehört uns heute die Luft. Nicht zu glauben und nicht zu wagen, das ist es, was das Leben lähmt. Das Schwierige ist nicht, die Probleme zu lösen, sondern sie zu stellen. Nun, wir sehen es jetzt: Sich der Leidenschaft zu bemächtigen, um sie dem Geist dienstbar zu machen, ist mit biologischer Evidenz eine Bedingung des Fortschritts. Früher oder später wird die Welt über unseren Unglauben hinweg diesen Schritt tun. Denn was wahrer ist, findet sich, und was besser ist, trifft schließlich ein. Eines Tages, nach dem Äther19, den Winden, den Gezeiten, der Schwerkraft werden wir die Energie der Liebe erobern, für Gott. - Und alsdann, ein zweitesmal in der Geschichte der Welt, wird der Mensch das Feuer gefunden haben.

Peking, Februar 1934

Nachwort:

In der heutigen, meist rein negativ geführten Diskussion um den Sinn der evangelischen •Jungfräulichkeit" ist es gut, die Stimme des großen französischen Jesuiten zu hören. Seine geniale Weltschau hat das wichtigste Dokument des II. Vatikanischen Konzils •Kirche in der Welt von heute" maßgeblich mit beeinflußt. Zum vorliegenden, erstmals übersetzten Text vgl. Ida Friederike Görres, Sohn der Erde: Der Mensch Pierre Teilhard de Chardin, 1971; Henri de Lubac, Kommentar zu: T. d. Ch. Hymne an das Ewig Weibliche (übertr. v. Hans Urs von Balthasar). Freiburg 21969; Günter Schiwy, P. T. d. Ch., Briefe an Frauen. Freiburg 1988, 23-29; Mathias Trennert-Hellwig, Die Urkraft des Kosmos, Dimensionen der Liebe im Werk P. T. d. Ch. Freiburg 1993, 460-471. Wie innig das persönliche Verhältnis Teilhards zu Frauen war, zeigt besonders sein vor kurzem herausgekommener Briefwechsel mit Lucile Swan (The Letters of Teilhard de Chardin and Lucile Swan. Hrsg. Th. M. King, M. W. Gilbert. Georgetown University Press, Hampton Station, Baltimore); vorliegender Text will nicht zuletzt ihr die zölibatäre Entscheidung verdeutlichen. Man wird kaum noch wie G. Schiwy in seiner Biographie (Teilhard de Chardin. Sein Leben und seine Zeit. München 1981, I, 177) schreiben dürfen: •Die spiritualistische Deutung des Ewig-Weiblichen gibt Teilhard die Möglichkeit", Liebe zur Frau und Jungfräulichkeit zu vereinen. •Der Preis freilich ist hoch: Teilhards geliebte Materie erscheint nun als das, was überwunden werden muß." Doch der Leser bilde sich selbst sein Urteil.

Ich danke allen, die zum Gelingen einer lesbaren und zugleich wortgetreuen deutschen Übersetzung beigetragen haben. Sie erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Editions du Seuil nach der Ausgabe in: Les directions de l'avenir ((Euvres de Teilhard de Chardin). Paris 1973,67-92. JosefSudbrack SJ, München


Anmerkungen des Übersetzers:

1 Unter Keuschheit versteht Teilhard die humane •Beherrschung" der sexuellen Triebhaftigkeit. Jungfräulichkeit ist darüber hinaus der ganzheitliche Verzicht auf die Ausübung der Sexualität - eine Haltung, von der Teilhard sah, daß sie eng verwandt ist mit der •Sublimation", die nach Sigmund Freud Träger der menschlichen Kultur ist.

2 Die Kritik Teilhards an der Sexualmoral geht auf die damalige, noch jansenistisch durchzogene kirchliche Lehre in Frankreich (vgl. die Artikel im Dictionnaire de Theologie Catholique). Aber wesentliche Teile seiner Kritik sind auch heute noch gültig.

3 Offb 14,4: •Sie sind es, die sich nicht mit Weibern befleckt haben."

4 Tutiorismus ist ein Moralsystem, das in Zweifelsfällen vorschreibt, stets die einschränkendere Möglichkeit zu befolgen.

5 Im Buch III. Kap. 23 der Thomas von Kempen zugeschriebenen •Bücher von der Nachfolge Christi"heißt es: •Ich wähle stets lieber weniger als mehr zu haben."

6 Der Satz aus dem Vulgata-Text des Btfches der Weisheit (9,15): •Der Leib, der verderbt ist, beschwert die Seele", war ein beliebtes Zitat in aszetischen Handbüchern.

7 Französisch: La Femme pour la propagation de la race - ou pas de Femme du tout.

8 Eph4,9f.

9 Gleichsinnig, ohne die Unterschiede der Verhältnisgleichung zu sehen.

10 Vgl. 1 Kor 7,34.

11 Die •Chimäre" ist ein Fabelwesen; nach Homer: Vorne Löwe, hinten Schlange, in der Mitte Ziege. Die Klage Bernhards v. Clairvaux, daß er •die Chimäre des Jahrhunderts" (Mönch und zugleich aktiv in der Gesellschaft) sei, war Teilhard zweifelsohne geläufig.

12 Lateinisch: Den Reinen ist alles rein.

13 Fine pointe ist in der französischen Mystik (Franz v. Sales) das, was in der deutschen Mystik •Seelenfunke" besagt.

14 Für die Vereinnahmung Teilhards von New Age und ähnlichen Kreisen ist es wichtig zu wissen, daß er sich intensiv mit esoterischen Gedanken auseinandersetzte; z. B. mit Edouard Schure, der in Les grands Inities, 1893 die •Initiation", also die spirituell-rituelle •Einführung" in den Kreis der Eingeweihten feiert. Um Teilhard, der sich scharf vom östlichen Pantheismus distanzierte, in einen christlich verbrämten Buddhismus einordnen zu können, wirft man ihm Unkenntnis östlicher Religiosität vor. Matthias Trennert-Hellwig, Die Urkraß des Kosmos. Freiburg 1993, hat gezeigt, wie falsch der Vorwurf ist.

15 Lateinisch: •Es ist nicht erlaubt"; es klingt das scharfe Wort des Täufers gegen König Herodes nach: •Es ist dir nicht erlaubt!" (Mk 6,18)

16 Teilhard denkt wohl an Sonja aus Dostojewskis •Schuld und Sühne", die als Dirne Geld verdient und dabei die ganz und gar Reine ist.

17 In der Mathematik wird mit •Resultante" der Richtungsanweiser, die Richtungsformel einer Kurve bezeichnet, die sich aus den zwei Koordinaten ergibt.

18 Griechisch: Sphäre des Geistes; nach Teilhard die •neue denkende Schicht, die sich über der Biosphäre erhebt" (A. Haas), in der die individuellen Menschen zusammenklingen werden zu einem neuen •Organ des kollektiven Bewußtseins der Menschheit" (Die Entstehung des Menschen), ohne daß sie darin ihre Individualität verlieren, sondern sie - im Gegenteil - zur liebenden Personalität hin erfüllen.

19 Der Äther, von dem Teilhards schreibt, war nach einer physikalischen Theorie in der 1. Hälfte des Jahrhunderts ein vermeintlicher kosmischer Urstoff, der die Zwischenräume zwischen den Sternen ausfüllte.

(C) Die Autoren changed: 8. November 2020